Die Fährte der Toten
Unschuldigen zu retten. Nur ist er sich nicht so sicher, dass es das auch so sieht.
'Mein Name ist Jennifer. Ich bin Lees Schwester.'
Pete nickt schwach, mehr zu sich selbst als zu ihr. Ja. Natürlich. So absurd das Ganze ist, so sehr macht es inzwischen Sinn. Seine Sicht verschwimmt, und er strengt sich an, um das Wesen vor ihm noch einmal eindringlich zu betrachten. Das Sprechen bereitet ihm inzwischen Mühe, und er schmeckt Blut in seinem Mund.
‘Du bist kein Mensch, nicht wahr? Genau wie sie...so anders geworden ist. Auch wenn sie es eigentlich schon war, als ich sie damals traf.'
'Ja, das ist wahr. Doch damals war sie noch ein Kind. Das du gerettet hast. Für das du dein eigenes Leben riskiert hast. Dabei hast du sie nicht einmal gekannt...'
Jennifer spürt Bedauern, und sie wundert sich über sich selbst. Seit wann sieht sie Menschen wieder als etwas anderes als Werkzeuge, die man benutzt und dann beiseite legt, wenn man sie nicht mehr braucht? Manchmal scheint es ihr, als wenn Lees Sichtweise auf die Lebenden auf sie abgefärbt hätte. Der Lauf der Welt kann so seltsam sein.
'Wenn du willst, kann ich dich mitnehmen. Ich kann dir nicht versprechen, dass unser Weg der deine sein wird. Aber ich denke, das bin ich dir schuldig. Das sind wir dir schuldig.'
Sie lächelt, und die Angst, die Pete die ganze Zeit gespürt hat, schwindet langsam. Der Tod naht, und er weiß, dass es gut so ist. Er schüttelt den Kopf.
'Nein. Es ist ihr Weg, und wohl auch deiner. Aber es ist nicht meiner. Mein Weg endet hier. Er hätte schon viel eher enden sollen. Vielleicht hat er das nur deshalb nicht getan, weil sich unser aller Wege noch kreuzen sollten. Dann hätte alles einen Sinn gehabt.'
'Ja. So muss es gewesen sein. Deine Aufgabe war es, meine Schwester ein Stück weit auf ihrem Weg zu begleiten. Und wahrscheinlich hast du Recht. Es ist nicht Dein Schicksal, diese Straße mit uns weiter zu gehen.'
Sie geht in die Hocke und wischt sachte ein wenig Blut aus Petes Mundwinkel, und fast erwartet er, dass sie es von ihren grazilen Fingern leckt, aber sie wischt das Blut ohne hinzuschauen an ihrem Kleid ab und lächelt, als wolle sie ihm sagen, dass er nichts zu befürchten habe. Dass sie nicht dafür gekommen sei. Dass sie ihn nicht als achtlos hingeworfene Beute sehe.
Petes Atem geht nun stoßweise. Er spürt, dass das Leben aus ihm heraus läuft, und er sieht das Glitzern in ihren Augen. Als sie den Mund öffnet, ahnt er ihre Worte, und er ist dankbar, dass er sich nicht irrt. Für einen kurzen, lichten Moment ist er sich absolut sicher, diese Frau schon einmal gesehen zu haben, und er ist sich ebenso sicher, dass sie es weiß. Das sie spürt, dass er durch ihre Tarnung, durch dieses perfekte Lächeln hindurchgeschaut hat.
'Ich muss nun gehen. Soll ich ihr noch etwas ausrichten?'
Pete sieht sie an, und eine einzelne Träne läuft ihm die Wange herunter und zieht eine Spur durch das Blut, das nun aus seinem Mund quillt, all das Blut, das er vergossen hat, das sie vergossen haben, sie alle - alle Wasser des Himmels könnten es nicht wegwaschen.
'Ich - '
Er möchte es aussprechen, aber er kann es nicht, er konnte es nie, und jetzt ist es zu spät, aber Jennifer legt einen Finger auf ihre Lippen und er weiß, dass sie es weiß. So schweigt er und sieht sie an, und jetzt endlich laufen die Tränen über sein Gesicht, die er so viele Jahre zurückgehalten hat, bahnen sich jetzt ihren Weg, während ein Wesen, das schon alt war, als er geboren wurde, ihn nachdenklich ansieht.
'Ich werde es ihr sagen. Aber es sei dir versichert, dass sie es bereits weiß. Und das sie dich auf ihre Art genauso geliebt hat wie du sie. Glaube mir, es ist besser für sie und für dich gewesen, wie es gekommen ist. Was das Mädchen angeht, das du gerettet hast und das mit Lee die Straße weitergehen wird – wünsche ihr Glück. Sie wird es brauchen können.'
Pete lächelt plötzlich, als wenn eine große Last von ihm genommen wurde. Er weiß, dass die Frau es Lee nicht sagen wird, und er weiß, dass es besser so ist.
'Nicht mehr allein.'
Jennifer schüttelt den Kopf.
'Nein, sie ist nicht mehr allein.'
'Alles gut…'
Eine Frage, mehr eine Bitte.
Jennifer nickt.
'Ja. Aber nun muss ich dich verlassen. Der letzte Akt hat bereits begonnen. Sei dir gewiss, wenn er vorbei ist, werden wir dafür Sorge tragen, dass keine rohe Hand deinen Frieden stören
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