Die Fährte der Toten
hören ist.
Jefferson atmet einmal tief durch, während er zu seinem Wagen geht. Er fühlt sich, als wäre er dem Leibhaftigen begegnet, der ihn aus einer Laune heraus verschont hat. Mit einer Gänsehaut zwischen den Schulterblättern steigt er in seinen Wagen und startet den Motor. Als er das Gelände verlassen und sich das automatische Tor hinter ihm geschlossen hat, schaut er noch einmal in den Rückspiegel. Kurz glaubt er, eine Gestalt zu sehen, die über den Rasen huscht, aber das muss eine Täuschung gewesen sein.
Egal, es ist schon spät. Seine Frau wartet mit dem Abendessen auf ihn. Viel zu schnell rast er die Schotterpiste hinunter, und erst als er die Hauptstraße erreicht, fällt die Anspannung ein wenig von ihm ab. Doch das beklemmende Gefühl, dass ihn jemand beobachtet, verlässt ihn während der ganzen Heimfahrt nicht.
***
Lee steht am Absatz der Treppe und lehnt sich gegen das von Wind und Regen glattgeschliffene Holzgeländer. Die Stufen führen durch den dichten Nadelwald hinunter zu den Klippen, gegen die die See im immer gleichen Rhythmus anbrandet. Ein leichter Wind zerrt an ihrem Haar, weht ihr einige Strähnen ins Gesicht und trägt ihr den salzigen Geruch des nahen Meeres zu.
Sie atmet einmal tief ein, eine der Gewohnheiten, von denen sie nicht lassen kann und auch gar nicht will. So war es, als du noch ein Mensch warst, denkt sie. Erinnerst du dich noch? Sie schüttelt den Kopf ob dieses Gedankens, zieht ihre Jacke aus und setzt sich auf die oberste Stufe.
Hier ist sie also, in ihrem neuen Zuhause. Wie lange wird es diesmal dauern, bis sich die Hoffnung, endlich Frieden zu finden als Illusion erweist? Seit ihre Familie ausgelöscht wurde, hat sie sich nie lange an einem Ort aufgehalten. Du streifst durch dieses Land wie ein ruheloser Geist, denkt sie, so wie du zwischen den Welten der Lebenden und der Toten wanderst.
Nur das es keine Wanderung ist. Sondern eine Flucht. Vor ihren Verfolgern, ihrer Vergangenheit, aber am meisten vor sich selbst. Was für ein lächerliches Unterfangen. Denn der Versuch ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Sie kann nicht weglaufen vor dem, was ihr aus dem Spiegel heraus entgegenblickt.
Ihr seid eins, du und dieses...Ding...in dir, denkt sie. Es hat sich in Dein Innerstes eingegraben und mit dir ein neues Fleisch geformt, und ein Teil deiner selbst ist dabei abgestorben und unwiderruflich verloren gegangen. Fast hat sie das Gefühl, dass sie in Tränen ausbrechen wird, und der Teil ihrer Menschlichkeit, der ihr noch verblieben ist, hofft geradezu darauf. Aber sie starrt nur mit leeren Augen in Dunkelheit des Waldes, der sich wie eine Barriere zwischen ihr und ihren Träumen auftürmt.
Wann hat sie eigentlich zum letzten Mal irgendetwas anderes empfunden als Zorn und Hass? Eine verschwommene Erinnerung formt sich in ihren Gedanken, doch bevor sie Gestalt annimmt, stürzt sich etwas in ihrem Innern wie ein Raubvogel darauf und trägt sie davon.
Eine lange nicht mehr erlebte Form der Müdigkeit umfängt sie, und sie zündet sich eine Zigarette an. Auch so eine alte Angewohnheit. Eine kleine Schwäche, die sie sich leisten zu können glaubt. Ein Zeichen ihrer Menschlichkeit, die ihr langsam aber sicher zu entgleiten droht. Mit einem Seufzer rafft sie ihre Jacke auf und erhebt sich. Zeit, sich um ein paar andere Dinge zu kümmern.
***
Lee überlegt sich gerade, wie sie ihr Schlafzimmer einrichten kann, als ihr Handy klingelt. Unbekannter Anrufer. Wie sollte es auch anders sein. In dieser Welt gibt es keine Leute, die ohne Not auch nur irgendwas von sich preisgeben. Nicht mal ihre Telefonnummer. Auf der anderen Seite, sie tickt ja genauso. Was zur Frage führt, wer zur Hölle da eigentlich anruft. So viele Leute haben ihre Nummer nun auch wieder nicht. Nur – um das herauszufinden, gibt es nur eine Möglichkeit.
'Ja?'
'Hallo Lee.'
Franks Stimme rollt in Lees Kopf wie ferner Donner.
'Hallo Frank.' sagt sie, während sie an ihrer Zigarette zieht. 'Wie schön, dass du dich mal wieder meldest. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen.'
Ein leises Lachen dringt an ihr Ohr.
'Tja, das hattest du wohl gehofft, was? Wird leider nichts draus.'
'Ach. Und wieso nicht?'
'Weil da draußen jemand rumläuft und sich bester Gesundheit erfreut. Das Problem ist – er sollte das schon seit geraumer Zeit nicht mehr tun. Weshalb du ihn umlegen wirst.'
'Wieso sollte ich?
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