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Die Familie: Roman (German Edition)

Die Familie: Roman (German Edition)

Titel: Die Familie: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Laymon
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lagen Klamottenhaufen: Kleider, Blusen, Pullover, Unterwäsche, Hosen, Nachthemden, Bademäntel und auch ein paar Jacken und Mäntel. Es schienen ohne Ausnahme Frauenkleider zu sein. An einer Wand entdeckte Chris Toilettenartikel: Föhne, Bürsten und Kämme, Lockenwickler, Zahnpastatuben und Zahnbürsten, Damenbinden. Daneben lag ein offener Koffer voller glitzerndem Schmuck, wie der Schatz eines Piraten.
    »Das Zeug muss den Opfern gehört haben«, flüsterte Hank. »Logisch. Er musste es irgendwie loswerden. Er wollte bestimmt nicht, dass es im Hotel herumliegt, falls jemand dort rumschnüffelt.«
    Er trat in die Kammer. Chris folgte ihm. Ihre Füße versanken in den Kleiderhaufen.
    Die Kleider von toten Menschen.
    Sie erschauderte.
    Hank legte den Kopf in den Nacken. Chris blickte ebenfalls nach oben.
    Das Tageslicht drang wie bleicher Nebel durch eine kaminähnliche Öffnung in der Decke der Kammer. Obwohl Chris direkt unter dem Loch stand, konnte sie den Himmel nicht sehen. Sie nahm an, dass der Tunnel, der offensichtlich an die Oberfläche führte, sich auf seinem Weg krümmte.
    Die Decke der Kammer war mindestens doppelt so hoch, wie Hank groß war.
    »Man könnte auf diesem Weg rein- und rauskommen«, sagte er, »aber dazu bräuchte man ein Seil. Das wird uns nicht weiterhelfen.«
    »Glaubst du, das ist Mordocks geheimer Zugang?«
    Er zuckte die Achseln. »Könnte sein. Vielleicht hatte er eine Strickleiter.«
    »Lass uns zum Fluss zurückgehen, ja? Der Ort jagt mir Angst ein.«
    »Okay.« Hank trat zurück, um einen besseren Blickwinkel auf das Loch in der Decke zu bekommen – und stolperte.
    Chris keuchte erschrocken, weil sie befürchtete, die Petroleumlampe könnte die dicke Kleiderschicht auf dem Boden entzünden, doch Hank landete auf dem Hintern und hielt die Laterne hoch. »Alles in Ordnung?«, fragte sie.
    Er nickte. »Komm her.«
    Sie watete durch die Kleider.
    »Halt mal.«
    Sie nahm die Laterne entgegen. »Was ist?«, fragte sie.
    »Ich will sehen, worüber ich gestolpert bin.« Er kniete sich hin und begann zu graben, warf Röcke, Bademäntel und Strumpfhosen zur Seite.
    »Vielleicht solltest du das lieber lassen«, sagte Chris.
    Er hob eine wattierte Bluse hoch und legte einen nackten Fuß frei. Chris versteifte sich. Schauder krochen wie kalte Würmer über ihre Haut.
    Noch mehr Leichen, dachte sie.
    Leichen unter uns. Vielleicht stehe ich auf einer!
    Hank berührte das Fußgelenk, dann zog er schnell die Hand zurück. Er sah zu Chris auf. Seine Augen waren weit aufgerissen, der Mund stand offen.
    »Verschwinden wir von hier«, flüsterte sie.
    Hank schüttelte langsam den Kopf und warf weitere Kleidungsstücke aus dem Weg. Er legte einen zweiten Fuß frei. Schienbeine. Die Beine lagen nebeneinander, waren jedoch leicht gespreizt. Er befreite die Knie.
    »Hank. Bitte. Ich will das nicht sehen.«
    »Diese hier lebt noch«, sagte er.
    Und mit einem Schrei richtete sie sich ruckartig in einem Wirbel von Kleidern auf.
    Ein Mädchen mit wildem blondem Haar. Die Augen zusammengekniffen. Die angespitzten Zähne gefletscht. Chris rief eine Warnung. In dem Moment, als sie das Wort »Pass …« ausstieß, sah sie, wie das Mädchen einen weißen, mit Klingen versehenen Stock nach Hanks Gesicht schwang, sah seine offene Hand gegen die Seite ihres Gesichts schlagen und hörte ein Klatschen und das Zusammenklappen ihrer Zähne, als die Handkante ihr Kinn traf. Der Hieb warf den Kopf des Mädchens zurück. Der Schrei riss ab. Chris’ Stimme hallte durch die plötzliche Stille: »… auf!« Während sie ihre Warnung vollendete, fiel das Mädchen auf die Kleiderschichten. Hank stieß die offene Hand gegen ihre Brust und riss den anderen Arm hoch, als wollte er die Fingerknöchel in ihren Hals schlagen.
    Er hielt inne.
    Er kniete dort, bereit zum Schlag, und rührte sich nicht.
    Das Mädchen lag reglos da.
    »Hank?«
    Er atmete tief durch, dann griff er über den ausgestreckten Körper und hob die Waffe auf. Er hielt sie in die Luft und untersuchte sie.
    Kein Stock, bemerkte Chris. Ein Knochen. Vielleicht ein Armknochen. Die obere Hälfte war mit Rasierklingen gespickt, die in Kerben im Knochen steckten.
    Hank schleuderte die Waffe zur Seite. Sie traf klappernd gegen die Wand der Kammer und fiel dann lautlos auf den mit Kleidern bedeckten Boden. Er sah auf das Mädchen hinab. »Was hat sie hier getan?«, murmelte er. »Und mit so einem Ding?«
    »Vielleicht …« Chris rang um Atem. Ihr Herz klopfte wild.

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