Die Farbe der Liebe
ein gutes Gefühl. Und ich hab’s ja auch ohne Schaden überstanden.« Sie zuckte die Achseln. »Heute zahle ich.«
Stolz fischte sie ein paar Geldscheine aus der Tasche.
»Du tust es wegen des Geldes? Aber du weißt doch, dass ich mehr als genug für uns beide habe. Außerdem würden dir deine Eltern auch mehr schicken, wenn sie den Eindruck hätten, dass du es brauchst. Vor allem wenn sie wüssten, dass du nackt Modell stehst …«
»Ich mag kein Geld von dir annehmen. Und du weißt genau, dass ich mit dem Ballettunterricht gerade mal mein Zimmer finanzieren kann und sonst kaum etwas. Aber ich möchte reisen, ausgehen, mir Sachen kaufen und nicht monatelang knausern müssen. Außerdem hat es Spaß gemacht.«
»Du hast dich wirklich vor ihm ausgezogen?«
»Ja. Aber weißt du, was am komischsten ist?«
Siv flüsterte ihrer Freundin ins Ohr: »Er ist blind.«
»Dann hat er dich wohl angefasst?«, fragte Aurelia. »Das klingt, als ob er dir was vorgemacht hätte, Siv.«
»Nein, er hat mich nicht angerührt. Und doch war es so, als würde er mich anschauen, ohne mich zu sehen. Als könnte er meinen Körper erspüren … Ich habe mich noch nie so ›wahrgenommen‹ gefühlt. Als könnte er meine Gedanken lesen, mir in die Seele schauen. So was in der Art jedenfalls.«
Aurelia schnaubte. »Und du meinst, ich wäre durchgeknallt?«
»Ich muss natürlich noch mal hin, denn wir haben heute kaum angefangen. Seltsamerweise hat er mich im Voraus bezahlt. Ich könnte mich jetzt mit der Kohle einfach aus dem Staub machen. Aber irgendwie weiß er, dass ich das nicht tue.«
»Wenn man uns so zuhört«, sinnierte Aurelia, »könnte man meinen, wir leben in einer Märchenwelt. Oder das Ganze ist ein Traum.«
»Ach, fast hätte ich es vergessen. Er macht eine Ausstellung und hat mir angeboten, dort für ihn Modell zu stehen. Du solltest mitkommen. Sieh es dir selbst an und hör auf, dich wie meine Mutter aufzuführen.«
Siv zog noch etwas aus ihrer Tasche, eine glänzende weiße Karte, die sie sorgfältig zu einem kleinen Viereck gefaltet hatte. Die schwarze Tintenschrift war die gleiche wie auf dem Zettel und so makellos, dass man nicht erkennen konnte, ob sie handgeschrieben oder gedruckt war. Und ihr Text besagte schlicht:
Ausstellung: nur mit Einladung
Aurelia betrachtete die Karte genauer. Die Rückseite war leer, da stand keine Adresse oder irgendeine Erläuterung zu dem Event.
»Das Ganze wird mit der Zeit immer seltsamer«, stellte sie fest.
VENEDIG 1847
Man hatte ihm gesagt, in Venedig gebe es mehr Ratten als Menschen.
Als die Gondel auf dem Canal Grande unter der Scalzi-Brücke hindurchglitt, wurde es bereits dunkel. Ange fror in seinem dünnen Umhang, der kalte Wind von der Lagune kroch ihm in die betagten Knochen. Im Kielwasser tanzten Millionen von Riffeln und gesellten sich zu dem feinen Muster aus Wellen, Wirbeln, konzentrischen Kreisen und Spritzwasser, das Dutzende in ihrer Nähe still dahinziehende lange, schlanke Boote hinterließen.
Formetta neben ihm hatte sich in eine dicke braune Decke gewickelt und starrte gedankenverloren nach vorn. Schon bald weitete sich der Kanal, und sie passierten die Punta della Dogana und den Markusplatz, bevor sie den breiten Canale della Giudecca querten.
Ihr in der Dunkelheit nur schemenhaft erkennbarer Gondoliere nahm Kurs auf die Insel San Giorgio Maggiore.
Ange Desclos war aus Böhmen an die Adria gereist, um ein bestimmtes Manuskript zu suchen. Denn auf dem Totenbett hatte seine Mutter, einstmals Bedienstete beim Grafen von Waldstein auf Schloss Dux, endlich gestanden, wer sein Vater war – eine Frage, die Ange sein Leben lang beschäftigt hatte. Es handelte sich um keinen anderen als jenen berüchtigten Casanova, der bis zu seinem Tod im Jahr 1798 auf Schloss Dux als Bibliothekar gearbeitet hatte.
Doch sie hatte ihm noch mehr enthüllt: nämlich dass es mehrere unveröffentlichte Kapitel von Casanovas umstrittenen Memoiren gab. Es war weithin bekannt, dass das 1822 zuerst in Deutschland erschienene Buch stark zensiert worden war, außerdem wiesen die Lebenserinnerungen große, unerklärliche Lücken auf. Ange war ebenfalls Bibliothekar geworden und so unwissentlich in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Daher reizte ihn die Suche nach dem fehlenden Teil von Casanovas Lebensgeschichte nicht nur als Bibliophilen, sondern sie bot ihm auch eine Möglichkeit, sich dem Mann anzunähern, der wohl sein Vater gewesen war.
Ange hatte lange Jahre lang in Prag,
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