Die Farbe der Liebe
stand vor dem geöffneten Kühlschrank und trank Milch direkt aus dem Karton.
»Die Milch ist für uns alle da, wie du weißt«, beschwerte sich Aurelia.
Siv setzte den Karton ab und wischte sich mit dem Handrücken den Milchbart vom Mund.
»Oje, da ist wohl jemand mit dem falschen Fuß aufgestanden!« Provokativ trank sie einen weiteren großen Schluck aus der Packung. Offenbar wollte sie demonstrieren, dass normale Verhaltensregeln für sie nicht galten und andere ihre Verstöße ruhig sehen konnten.
»Ich habe«, setzte Aurelia an, »ein Tattoo.« Aurelia hatte es satt, dass ihre Freundin wieder einmal so tat, als wäre sie die einzige Rebellin auf der Welt.
Siv verschluckte sich. Milch spritzte ihr aus Mund und Nase. Ihre Augen tränten.
»Das hast du davon«, bemerkte Aurelia schadenfroh, als Siv hustend und keuchend nach Luft rang. Aber dann lenkte sie ein und klopfte ihr leicht auf den Rücken. »Wasser?«, fragte sie.
»Nein, nein, geht schon. Das war ein Witz, oder? Das mit dem Tattoo? Lustig …«
Aurelia schwieg.
»Verdammt, kein Witz? Wann hast du es machen lassen? Und wo? Ich dachte eigentlich, heute bin ich diejenige mit den großen Überraschungen.«
Aurelia öffnete den Mund, schloss ihn jedoch gleich wieder. Irgendwie wollten ihr die Worte nicht über die Lippen kommen.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte sie schließlich. »Wir sollten uns dazu irgendwo in Ruhe hinsetzen. Wollen wir was trinken gehen?«
Erst als sie vor der Bar an der Ecke Broadway und West Grand standen, fiel ihnen wieder ein, dass sie beide in den Vereinigten Staaten keinen Alkohol ausgeschenkt bekamen, weil sie dafür noch zu jung waren. Hätten sie vorher daran gedacht, hätten sie sich entsprechend geschminkt und schickere Klamotten angezogen, um für über einundzwanzig durchzugehen. Doch Siv trug wie üblich Shorts über einer Strumpfhose, und Aurelia war in Jeans und Ballerinas geschlüpft und hatte sich die langen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Weil sie so wahrscheinlich sogar jünger aussahen als neunzehn, entschieden sie sich für eines der Esslokale in der Nachbarschaft.
»Blöde Puritaner«, brummte Siv. Eine temperamentvolle und in Aurelias Augen übertrieben fröhliche Kellnerin brachte ihnen zwei Glas Malzmilch und eine Schüssel mit gratinierten Pommes frites, die mit so viel blubbernd heißem Käse bedeckt waren, dass man sich an ein Wesen aus dem All erinnert fühlte, das sich jeden Augenblick erheben und über den Tisch auf sie zukriechen könnte.
Siv fischte vorsichtig eine Fritte aus der klebrigen gelben Masse und schob sie sich in den Mund.
»Nicht schlecht«, erklärte sie. Daraufhin nahm sie die Ketchupflasche in beide Hände und drückte einen großzügig bemessenen Klecks auf das Ganze. Aurelia, die ihre Chips lieber aus einer Papiertüte aß, mit Essig beträufelt und möglichst irgendwo an der Küste, rührte die Schüssel nicht an und nippte an ihrem Milchshake. Er war kühl und cremig, ein Getränk, das ihr im Grunde viel besser schmeckte als Bier.
Sie hatten sich nebeneinander auf die mit rotem Kunststoff bezogene Bank in einer Nische gesetzt, sodass sie sich leise unterhalten konnten, ohne unerwünschte Mithörer fürchten zu müssen.
»Nun denn«, sagte Siv. »Zeig es mir.«
Aurelia nahm ihr Handy heraus und holte das vor wenigen Stunden geschossene Foto aufs Display.
Siv kniff die Augen zusammen, als sie es studierte. »Nett«, sagte sie schließlich wenig überzeugt. »Und wo hast du es?« Sie wies mit dem Finger auf das nicht näher zuzuordnende Stück Haut drum herum. »Auf den Titten? Oder an einer anderen Stelle, die du mir hier nicht zeigen kannst?« Dabei blinzelte sie ihrer Freundin frech zu.
Aurelia konnte die meisten Fragen nicht beantworten, die aus Siv heraussprudelten. Und als sie beschrieb, unter welchen Umständen das Herz in Erscheinung trat, wurde sie rot.
Siv war froh, dass ihre beste Freundin endlich einen Mann gefunden hatte, der ihr Lust bereitete, machte ihr aber auch bittere Vorwürfe, dass sie ihr nicht schon früher von diesen denkwürdigen Ereignissen erzählt hatte. Umso gründlicher befasste sie sich nun mit den Folgen, die sich für Aurelia daraus ergaben.
»Also nur dann, wenn du richtig heftig kommst? Oder wenn du an diesen Unbekannten denkst? Oder vielleicht beides?«, wollte Siv wissen. »Ach, denk dir nix«, fügte sie hinzu, als Aurelias Wangen vor Schamröte glühten. »Wir machen es doch alle. Ich hätte nur nicht gedacht, dass
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