Die Farbe der Liebe
Paris und Berlin in staubigen Archiven recherchiert, bis ihn seine Nachforschungen nach Venedig geführt hatten, Casanovas Geburtsort und Schauplatz vieler seiner Abenteuer.
Als er im trüben Licht des Gemeinschaftsraums der im Sestiere Cannaregio gelegenen Pensione Tronca seine Notizen durchging, war er endlich fündig geworden. Eine höchst ungewöhnliche Lücke. Für eine Spanne von sechs Monaten im Jahr 1788 machte Casanova keine Angaben zu seinen Aufenthaltsorten und Betätigungen. Und Jahre später berichtete er mit wenigen dürren Zeilen von mysteriösen Ereignissen eines prächtigen Fests in einem Schloss bei Avignon.
Warum wurde dieses Fest in den knapp zweitausend Seiten umfassenden Erinnerungen sonst nirgendwo erwähnt? Ange hatte einige wenige noch lebende Zeitgenossen von Casanova ausfindig gemacht und dazu befragt. Doch es war ihm nicht gelungen, Licht ins Dunkel zu bringen, bis er in Schänken leise geraunte Gerüchte hörte und mit kleinen Bestechungsgeldern, edlem Branntwein oder bloßem Betteln vage Erinnerungen zutage förderte, aus denen sich letztlich der Name Formetta herauskristallisierte. Ihr heute stattfindendes Treffen war das letzte Wegstück seiner Forschungsreise. Der letzte Name auf seiner Liste, wobei sich Ange inzwischen nicht mehr daran erinnern konnte, wann oder warum man ihm den Namen dieses alten Tänzers überhaupt genannt hatte.
Wie hätte er denn ahnen können, dass Formetta stumm und taub war und ein Geheimnis, das er womöglich kannte, sich kaum würde entlocken lassen? Mit ausufernden Gesten hatte Ange dem Mann verständlich machen wollen, dass er ihm seine Fragen auch schriftlich vorlegen könne, doch der ausgezehrte, weißhaarige Alte hatte herrisch abgewunken, als wäre es weit unter seiner Würde, sich damit abzugeben.
»Casanova, der Chevalier de Seingalt? Ein Ball? Ein Manuskript?«, hatte Ange ihm lauter als gewollt ins Ohr gebrüllt, als würde er mit erhobener Stimme größeren Eindruck auf seinen Gesprächspartner machen. Doch der vornehme ältere Herr hatte sich nur mit rätselhaftem Lächeln auf den schmalen Lippen ein Stäubchen von der Hand gewischt, als sie sich im Vorzimmer seines kleinen Palazzo beim Ponte dell’Accademia gegenüberstanden, wohin man Ange geschickt hatte.
Nach einer halben Stunde erfolgloser Versuche, sich verständlich zu machen, wollte Ange gerade gehen, als Formetta sich überraschend von einem Diener eine Decke bringen ließ. Dann führte er Ange zu einem Steg hinter dem Palazzo, wo eine Gondel festgemacht war, und bedeutete ihm, hinter ihm einzusteigen.
Inzwischen brach die Nacht über die Lagune herein, und sie näherten sich der Insel. Ange staunte über die zahllosen Lichter, die am Horizont die vielen Kirchtürme und Kuppeln beleuchteten. An Mauern, Brüstungen und in Fenstern brannten hunderte Fackeln, als würde gleich ein Fest beginnen. Schwerer Blütenduft und die Wohlgerüche seltener Gewürze stiegen ihm in die Nase, als die Gondel vorsichtig an den Anleger gesteuert wurde.
Ein Lakai reichte ihm die Hand, um ihm beim Aussteigen zu helfen. Sobald Ange festen Boden unter den Füßen hatte, warf er einen Blick hinter sich. Er hatte damit gerechnet, dass Formetta ihm folgen würde, doch die Gondel hatte bereits wieder abgelegt und glitt durch das schwarze Wasser der Lagune. Der alte Mann winkte ihm zum Abschied zu.
»Verdammt!«, entfuhr es Ange leise.
Vor ihm beleuchteten flackernde Fackeln seinen Weg durch die Dunkelheit, und er folgte dem Diener zu einer hohen Rundbogentür. Sie führte in ein höhlenartiges Gebäude, das zwischen dem Kloster der Insel und der Kirche San Giorgio lag, seinem Blick aber wegen eines raffinierten architektonischen Kunstgriffs verborgen geblieben war. Musik drang an sein Ohr, als er näher kam.
Gemessenen Schrittes trat er über die Schwelle in eine große Kuppelhalle, wo das Licht als gleißender Vorhang von der gewölbten Decke fiel. Anfangs war Ange von dem unvermittelten grellen Schein geblendet und kniff die Augen zusammen, konnte sich dann aber allmählich ein Bild von seiner Umgebung machen.
Hinter der Wand aus weißem Licht sah er einen wahren Farbenrausch, eine Prachtentfaltung von überirdischer Vielfalt.
Denn in der Halle drängten sich extravagant herausgeputzte Gestalten, die aussahen, als ob sie aus früheren Jahrhunderten stammten und sich zu diesem Anlass groß in Schale geworfen hätten. Ein Stoff war erlesener als der andere, sie schimmerten und glänzten in allen
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