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Die Farbe der Liebe

Die Farbe der Liebe

Titel: Die Farbe der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vina Jackson
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fiel ihr wieder ein, dass sie als Jugendliche beim Lesen dieser fremdartigen Geschichten zum ersten Mal sexuell erregt gewesen war. Und sie erinnerte sich auch vage an die Schuldgefühle, die sie bei ihren Fantasien verspürt hatte, sie wäre eine zum Opfer bestimmte Jungfrau in der Gewalt eines dunkelhäutigen, stattlichen Sultans oder Abenteurers.
    Da legte sich eine Hand auf ihre Schulter.
    Erschreckt fuhr Aurelia aus ihren Träumereien auf.
    Sie drehte sich um.
    Noch ehe sie ihn sah, roch sie seinen Duft, die unverkennbare luftige Mischung aus Frucht, Moschus und Freundlichkeit – und wusste sogleich, wer er war.
    Seine Stimme war tief und zärtlich, süß wie Honig.
    »Schön, dass du auf den Ball zurückgekehrt bist, Aurelia«, sagte er.
    Als er so aufrecht vor ihr stand, war er gerade mal einen halben Kopf größer als sie. Er hatte ein schmales Gesicht, aber ein kantiges Kinn, dazu volle Lippen und markante Wangenknochen und wirre kastanienbraune Locken auf dem Kopf.
    Sie hielt die Luft an. Wenn dieser Augenblick doch nie enden würde!
    Er trug ein schlichtes weißes, am Kragen geöffnetes Hemd und enge schwarze Bundhosen, die Kluft eines Akrobaten. Ganz unwillkürlich fiel ihr Blick auf seinen Schritt. Als sie sich daran erinnerte, wie sie ihn in sich gespürt hatte, lief sie dunkelrot an.
    »Du …«, stammelte sie.
    »Ich heiße Andrei«, sagte er.
    Und sah ihr in die Augen.
    Erleichterung und Freude trafen sie mit solcher Wucht, dass sie glaubte, ohnmächtig zu werden.
    »Du …«, wiederholte sie. Sie fand keine Worte.
    Als er die Hand von ihrer Schulter nahm, wurde ihr plötzlich wieder bewusst, dass sie nackt war. Aber weit erschreckender war, dass er noch seine Kleider trug. Irgendwie ließ sie das ihre Verletzlichkeit nur noch deutlicher spüren.
    »Das hat …«, setzte sie an.
    »… aber lange gedauert«, beendete Andrei den Satz.

NEW ORLEANS 1914
    Thomas war in seinen ersten Jahren in Amerika in Gesellschaft von Landstreichern und Arbeitssuchenden mit der Eisenbahn durchs Land gezogen. Das war kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gewesen. Es war nicht ungefährlich, sich in einem Güterwaggon zu verstecken, zumal man nie genau wusste, wo man ankam. Bald hatte er heraus, wie man es vermied, den beutegierigen Bremsern in die Hände zu fallen, und wie man an Pumpstationen und auf Rangierbahnhöfen auf langsam fahrende Züge aufsprang. Er war daran gewöhnt, seine Reisen und seine Geschichten mit dem Treibgut des amerikanischen Traums zu teilen, das zu Beginn des Jahrhunderts kreuz und quer durchs Land gespült wurde. Aber im Unterschied zu diesen Menschen war er nicht durch Not und Hunger dazu getrieben.
    Wie man als blinder Passagier in einem Güterzug mitfuhr, hatte er von Experten wie Josiah Flynt und Jack London gelernt. Er wusste auch, wie man es verhinderte, in einem Kühlwaggon eingeschlossen zu werden: Indem man immer ein Stück Holz bei sich trug, das man in die Tür klemmen konnte. Er hatte neue Freunde gefunden, ein paar Rippenbrüche erlitten und war mehrfach von Gesindel und Mitfahrern zusammengeschlagen worden. Aber das Wichtigste war, dass er Informationen gesammelt hatte. Stück für Stück, Wort für Wort.
    Informationen über den Ball.
    Es war fünf Jahre her, dass er zum ersten Mal von dieser geheimen Veranstaltung erfahren hatte, und zwar durch eines der unzähligen abenteuerlichen Gerüchte, die unter den Studenten der Heidelberger Universität zirkulierten, wo er Englisch studierte. Aber solche Geschichten gehörten natürlich zum ausschweifenden Studentenleben mit seinen Saufgelagen. Thomas hatte nie viel auf die Räuberpistolen gegeben, die unter den Studenten kursierten. Die Menschen brauchten nun mal Träume, um die Wirklichkeit zu ertragen, das wusste er. Er selbst war Realist, der mit beiden Beinen im Leben stand und nichts auf Illusionen gab.
    Wie alle Studenten und Professoren war Thomas Stammgast in den Bordellen der verrufenen Stadtviertel gewesen – allerdings aus ganz anderen Gründen als seine Kommilitonen. Er ging nicht zu Huren, weil sie immer zu haben waren und sich mit ihnen wilde, fröhliche Feste feiern ließen oder weil er ein Ventil gebraucht hätte, um in dieser ganz und gar von Männern geprägten Welt der Wissenschaft ab und zu mal Dampf abzulassen, obwohl ihm auch das nicht ganz fremd war.
    Nein. Was Thomas suchte, war Verschwiegenheit.
    Obwohl er längst ein Mann war und sich nicht mehr an eine Zeit erinnern konnte, in der er sich nicht als

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