Die Farbe der Liebe
Ketten, gefesselt mit goldenen Seilen, adlige Damen, die sich allen und jedem hingaben, Personen von unbestimmbarem Geschlecht, die als Nymphen und Faune auftraten und es wie die Tiere miteinander trieben, Nackttänzer und erotische Rituale. All das fand er natürlich spannend und aufregend. Gerüchten zufolge sollte der Ball im Jahr zuvor in einem der bayerischen Schlösser Ludwigs II . stattgefunden haben. Bald gehörte Thomas zu jenen, die das nicht bloß für ein Märchen hielten.
Unterdessen ahnte sein Vater, dass es in Europa bald zum Krieg kommen würde, und schrieb ihm einen Brief, in dem er ihm in verklausulierter Weise, um ungewollte Mitleser nicht misstrauisch zu machen, nahelegte, für ein paar Jahre nach Amerika zu ziehen. Thomas, der wusste, dass ihm ein Leben als Soldat nicht möglich war, nahm den Rat an. Es fügte sich gut, dass er von einem Schiffsausrüster in Hamburg hörte, der Ball sei in die Neue Welt übergesiedelt.
Als er Baton Rouge in Louisiana erreichte, war sein Geld fast aufgebraucht. Es gab keine Züge, die ihn weiter Richtung Süden hätten bringen können, und so kam er schließlich zu Fuß in New Orleans an.
Er hatte sich seit Tagen nicht mehr gekämmt, und in seinen Kleidern hing der Staub der Landstraße. Es war ein Tag vor Frühlingsbeginn. Unterwegs hatte er immer wieder gehört, dass der Ball zur Tagundnachtgleiche stattfinde. Ob das stimmte, musste er jetzt herausfinden.
Bereits am frühen Morgen, als die Sonne sich über dem breiten Mississippi erhob, war die Luft vom schweren Duft der Magnolien und Bougainvillea erfüllt. Krebse und Garnelen brodelten in Töpfen oder Kesseln und verbreiteten ein würziges Aroma, das durch die Gassen wehte und seinen leeren Magen zum Knurren brachte.
Um die Mittagszeit wurde die Hitze unerträglich, und er suchte Schutz im Schatten der Bäume am Jackson Square. Nur zweihundert Meter weiter floss träge der Mississippi dahin.
Kurz nach seiner Ankunft aus Europa in New York hatte ihm ein Matrose, der behauptete, einmal als Akrobat und als Bühnenarbeiter beim Ball beschäftigt gewesen zu sein, zugesteckt, dass die Veranstaltung in diesem Jahr auf einem Fluss stattfinden würde. Mehr ließ er sich jedoch nicht entlocken, und Thomas konnte nur hoffen, auf den richtigen Fluss getippt zu haben.
Vom Flussufer drang das Geklimper einer Dampforgel wie betörender Sirenengesang an sein Ohr. Thomas trat aus dem Schatten der Bäume und ging ans Wasser.
Vor ihm lag ein prächtiger Flussdampfer in der schlammigen Flut, der mit seinen Schaufelrädern, den schlanken Schornsteinen und den Aufbauten hoch vor ihm aufragte. Auf der Längsseite prangte in goldenen Lettern der Name NATCHEZ IX . Thomas hatte bereits einiges über die berühmten Schaufelraddampfer des Mississippi gelesen, aber dieser Anblick übertraf all seine Erwartungen. Ihm stockte der Atem.
Mit großen, staunenden Augen beobachtete er, wie Matrosen und Hafenarbeiter über zwei Gangways stetig Kisten, Gerätschaften, Fässer, Reisekoffer und allerlei Sonstiges auf das Schiff brachten.
Ein Kinderspiel, sich unter sie zu mischen. Thomas war ein wahrer Meister der Tarnung, denn er wusste nur zu gut, dass die meisten Menschen nur sehen, was ihren Erwartungen entspricht. Beispielsweise hielten ihn die Leute stets für einen Mann, auch wenn er gar keine Versuche unternahm, seine weiblichen Züge zu verbergen, und zwar nur, weil er Hosen trug. Also ging er hinunter zum Kai, nahm die typische Haltung eines Lastenträgers ein – leicht gekrümmt, den Blick zu Boden gerichtet –, lud sich die nächstbeste Kiste auf und ging damit geradewegs auf das Schiff.
Einmal an Bord, war es kein Problem, ein Versteck zu finden. Er setzte seine Kiste ab und trottete hinter den anderen zurück zur Tür, als wollte er die nächste holen, verdrückte sich dann aber hinter einem hohen Stapel in einer dunklen Ecke. Die Zeit verging langsam, aber sie verging. Schon bald wurde es hinter den Kisten und im Stauraum immer dunkler. Der Abend brach an, und schließlich hörte er, dass sich das Schaufelrad in Bewegung setzte und der Dampfer ablegte.
Die Lastenträger, die die Ladung an Bord gebracht hatten, waren an Land geblieben. Thomas veränderte vorsichtig seine Position, damit ihm die Beine nicht einschliefen und weil er die neue Crew in Augenschein nehmen wollte. Diese Männer waren von einem ganz anderen Schlag und wirkten nicht so gedrückt wie Menschen, die tagtäglich schwere körperliche Arbeit verrichten.
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