Die Farbe der Liebe
solcher empfunden hatte, konnte er trotz all seiner Bemühungen doch nicht vergessen, dass er als Frau zur Welt gekommen war.
Als Kind hatte er seine Spitzenkleidchen zerrissen und die Puppen in der Ecke liegen lassen. Er war viel lieber auf Bäume geklettert, statt Kuchen zu backen oder zu sticken. Seiner überforderten Mutter fiel nichts anderes ein, als das Kind zu verwöhnen, und sein Vater, der seine Beamtenkarriere verfolgte, war selten zu Hause und kümmerte sich nicht um die Erziehung. Ein Wendepunkt in seinem Leben trat ein, als er sich mit der Schneiderschere seiner Mutter die dichten braunen Locken abschnitt und darauf bestand, fortan Thomas und nicht mehr Therese genannt zu werden.
Aus Furcht vor den Reaktionen in ihrer kleinen Gemeinde schickten die protestantischen Eltern Therese erst einmal zu den Großeltern und erfanden dann die Geschichte, sie habe dort geheiratet und sei ins Ausland gezogen. So wurde Thomas erschaffen. Sein Vater ließ seinen Einfluss spielen, besorgte ihm falsche Papiere und bestach einen alten Freund, um ihn als Student an der Universität Heidelberg einzuschreiben.
In den großen Ballungszentren, insbesondere in Berlin, lebte es sich etwas entspannter. Hier setzte sich der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, der Mitbegründer des »Wissenschaftlich-humanitären Komitees«, für die Rechte von Schwulen und Transsexuellen ein. Das war zwar gut und schön, aber Thomas hatte keine Lust, seinen Körper und seine Sehnsüchte von einem wohlmeinenden Wissenschaftler begutachten zu lassen. Er wäre sich dabei vorgekommen wie unter dem Mikroskop. Er wollte einfach nur als Mann leben, weil er ein Mann war. Das hörte sich einfach an, aber dass es nicht so einfach war, hatte er bereits erfahren. Berlin war zwar, gemessen am Rest Europas, eine liberale und in sexuellen Belangen freizügige Stadt, aber es regten sich bereits andere Kräfte.
Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste – das war schon immer Thomas’ Wahlspruch gewesen. Und so lernte er, sich zu verbergen. Er band sich den Busen ab, setzte vorsichtig Theaterschminke ein und frisierte sich sein Haar so, dass er als hübscher Junge durchging.
Natürlich hatte das zur Folge, dass ihm Mitstudenten und Lehrkräfte häufiger mal Avancen machten. Es gab viele Homosexuelle an der Universität. Er ignorierte ihre Annäherungsversuche beharrlich und gab sich bei seinen Bordellbesuchen als Heterosexueller. Die Prostituierten gingen auf sein Spiel ein und spreizten bereitwillig die Beine für seinen großen Holzpenis, den er einem alten Weiblein in einem Trödelladen abgekauft hatte, zusammen mit einem Geschirr, mit dem er sich die Vorrichtung um die Hüften schnallte. Damit fickte er so gut wie jeder Mann. Eigentlich sogar besser, dachte er, obwohl er das nicht genau wissen konnte, denn er verspürte kein Bedürfnis zu erleben, was es hieß, ganz ausgefüllt zu sein, so wie die bereitwilligen Huren, die seine seidige Haut, seine weichen Lippen und seinen nie ermüdenden Schwanz liebten.
Aber die Lust, die er mit ihnen erlebte, hielt nicht an. Er wollte mehr: die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, und das nicht bloß innerhalb einer geduldeten Minderheit, bei wissenschaftlichen Studien oder in libertinären Kreisen. Thomas wollte ein ganz normaler Mensch in der Gesellschaft normaler Menschen sein, nicht eine exotische Figur in einer Welt der Normalität. Er wollte seine Männlichkeit ausleben, sich an seiner Eigenheit freuen und auf dem Grab einer Welt tanzen, die nur in Schwarz und Weiß denken konnte. Er träumte davon, auch alle Grautöne dazwischen kennenzulernen.
So klagte er an einem weinseligen Abend in einer Taverne einem seiner jüngeren Dozenten, Wolfgang mit Namen, wie unerfüllt er sich bisher mit Frauen fühle. Sein Zechkumpan, der schon reichlich betrunken war, flüsterte ihm daraufhin etwas von einem Ball ins Ohr. Dort seien die Frauen nicht nur um Klassen besser, sondern auch alle Arten von Exzessen erlaubt, selbst solche, die das Gesetz nicht toleriere.
Thomas hielt das zunächst für eine Rauschfantasie, doch seine Neugier war geweckt. Als er aber am nächsten Morgen im hellen Tageslicht mehr von Wolfgang erfahren wollte, behauptete der steif und fest, nie etwas von einem »Ball« erzählt zu haben.
Im Laufe der folgenden Monate versuchte Thomas, Näheres über dieses legendäre Fest herauszufinden. Er trug einige bruchstückhafte Informationen zusammen, die ein verlockendes Bild ergaben: junge Männer in
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