Die Farbe der Liebe
Tanz, folgten dem Klang ihrer inneren Melodie, fickten, stießen, krümmten sich, rangen, drangen vor und zogen sich zurück. Wie stolze Tiere räkelten sie sich unter dem Baldachin auf den Seidenkissen, die auf dem Boden lagen.
Als sich zwischen den Körpern plötzlich eine Lücke auftat, fiel das gleißende Licht auf einen Mann, der im Lotussitz allein und bekleidet in einer Ecke hockte. Walter. Er hielt einen Klumpen Ton in den Händen, den er mit seligem Lächeln knetete und formte. Seine leeren Augen richteten sich mal auf dieses, mal auf jenes kopulierende Paar, und seine klugen Hände schienen ihr Wesen zu erfassen.
Und Aurelia erkannte, dass er mit jeder Regung seiner kunstfertigen Finger eines der Paare unter dem Baldachin in Bewegung versetzte, worauf es einen neuen Winkel, eine neue Stellung einnahm. Sie alle wurden von Walter gelenkt. Ein Blinder dirigierte das Orchester ungezügelter Lust, führte all diese Seelen, all diese Körper zum Höhepunkt.
Und was nun?, fragte sich Aurelia.
Siv richtete sich langsam zwischen den gespreizten Schenkeln des Zentauren auf und sah sich um. Da entdeckte sie Aurelia, die reglos vor ihnen stand.
Sie kräuselte die Lippen. Und Aurelia stockte der Atem.
Noch nie hatte sie ihre Freundin mit einem derart seligen Lächeln gesehen. Es war der Ausdruck höchster Zufriedenheit, tiefster innerer Ruhe und reinsten Glücks. Sie sahen sich an, und Siv strahlte, überwältigt von Gefühlen.
»Ich bin angekommen«, schien das Funkeln in ihren Augen zu sagen.
Plötzlich empfand Aurelia ungeheure Erleichterung. Siv war hier. Es ging ihr gut. Sie war sogar glücklich. Doch als Aurelia sah, dass ihre Freundin sich langsam wieder über den Zentauren beugte, konnte sie es nicht länger ertragen. Sie musste sich abwenden, sonst wäre sie in Tränen ausgebrochen. Sie wusste, dass Siv jetzt für immer dem Ball mit all seinen Mysterien gehören würde. Ihr gemeinsames Leben war ein für alle Mal vorbei.
Sie kehrte dem Baldachin den Rücken zu und lief wieder ins Freie. Bäume schienen nach ihr zu greifen und versperrten ihr den Weg, das Gras unter ihren Füßen war rutschig, Zweige peitschten ihr ins Gesicht. Bald wusste sie nicht mehr, wo sie sich befand.
Hier leuchteten die Lampen nicht mehr so hell, und Aurelia fühlte sich plötzlich wie Treibgut, das in dem Wirrwarr der Klänge und dem Gemenge der nackten Körper willenlos von einem Ort zum anderen getrieben wurde und nirgendwo richtig Fuß fassen konnte. Da entdeckte sie im fahlen Licht die klaren Umrisse eines weiteren Zelts, und mit einem Schlag war sie sich gewiss, dass sich hier ihre wahre Bestimmung und der Grund verbargen, weshalb man sie auf die Insel gebracht hatte. Der Jahrmarkt, der Kuss, Gwillam Irving und seine Kanzlei, der Treuhandfonds – falls es ihn überhaupt gab und es nicht bloß eine Finte gewesen war, um sie hierherzulocken –, der blinde Bildhauer Walter, die Schicksalsnacht in dem Kirchlein in Bristol, Lauralynn, Tristan – nichts davon war, wie sie jetzt wusste, Zufall gewesen.
Ihr wurde heiß. Die Hitze durchflutete ihren Körper wie ein willkommenes, aber auch gefürchtetes Fieber.
Angstschweiß trat ihr auf die Stirn, und sie hob die Hand, um ihn unter dem roten Blütenkranz fortzuwischen. Diese Krone ließ ihre Haut noch blasser wirken. Sie bebte. Sie hatte sich, nackt und verletzlich, in einem Wald verlaufen, den sie nicht kannte.
Als sie matt den Arm sinken ließ, fiel ihr Blick auf das Herz auf ihrem Handgelenk. Blutrot schien es von innen her zu lodern – eine heiße Flamme gezügelter Lust. Doch dann entdeckte sie noch ein Zeichen auf ihrem Körper, nicht ganz in der Mitte zwischen ihren Brüsten, etwa dort, wo ihr echtes Herz saß. Kräftig schlug es im gleichen Rhythmus wie das in ihrem Körper, und die Wärme, die von ihm ausging, hüllte sie ein wie eine Decke.
Und auf dem Zelt, an der im Nachtwind flatternden Eingangsplane, sah sie das gleiche flammende Herz leuchten.
Aurelia machte einen Schritt.
Trat in die Dunkelheit.
Blieb stehen. Rührte sich nicht.
Wie durch Zauberhand schimmerte plötzlich im Zelt ein blaues Licht auf, und als es allmählich heller wurde, konnte sie mehr von ihrer neuen Umgebung erkennen.
Hier gab es keine wogenden Körper oder mit Speisen und Weinen überladene Tafeln, sondern lediglich eine leere Fläche. Die üppigen persischen Teppiche, die in der Mitte den Boden bedeckten, ließen sie an Scheherazade und tausendundeine Nacht denken, und plötzlich
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