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Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madison Smartt Bell
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Mal. Mein Daumen schwebte über der Auflegetaste.
    »Hallo …«
    Die Stimme war erkennbar, wenngleich nicht unverändert. Die alte Heiserkeit, mit Schläfrigkeit darin. Hatte ich damit gerechnet, sie zu wecken? Eine leichte Beunruhigung war zu spüren, wie von jemandem, der unerwartet aufgeschreckt wird. Ich war mit dem schnurlosen Telefon auf meine Holzveranda gegangen, wo ich auf einem Gartenstuhl saß und durch die Karos des Maschenzauns über die frühmorgendliche Wüste blickte. Aber an der Ostküste musste es später sein. Helllichter Tag. Vielleicht war es Wochenende, ich weiß nicht.
    »Hallo?«
    Eindeutig, es war Laurels Stimme. Ich begann, die Leitungen zwischen uns zu sehen, stellte mir das Telefonsignal vor, wie es von irgendeinem Satelliten abgestrahlt wurde, da oben im langsam heller werdenden Himmel, in den ich schaute und in dem mein Blick sich verlor wie der Strahl einer Taschenlampe, den man in die schwarze Nacht des Universums schickt. Ich konnte spüren, wie sie sich blind meinem Schweigen zuwandte. Wie eine Antenne, die nach einem Signal sucht. Ein Kopf, verschnürt in einen Sack aus schwarzer Seide.
    Als ich zu mir kam, stand die Sonne am Himmel, und in der Ferne hörte ich irgendwelche Maschinen, die einen Berg abtrugen. Bauen, Niederreißen, es hörte nie auf. Meine Kleidung und meine Haut waren mit feinkörnigem Sand überzogen. Das Freizeichen summte aus dem schnurlosen Telefon, das ich mit beiden Händen umfasst hielt und gegen den Bauchnabel drückte. Laurel hatte kein Wort mehr gesagt.

19
    Sie erzählte mir, dass sie einmal gesehen hatte, wie D. einen toten Vogel wieder zum Leben erweckte. Insgeheim glaubte ich ihr nicht. Vielleicht war Laurel auf einem Trip gewesen, oder sie hatte das, was sie sah, einfach falsch gedeutet.
    Zu Hause, damals, war einmal ein Rotkardinal gegen unser Panoramafenster geflogen und bewusstlos zu Boden gefallen. Wir vier saßen gerade dahinter und frühstückten sonntägliche Pancakes. Das Mom-Ding erstarrte, die Gabel auf halbem Weg zum Mund. Über den Tisch hinweg konnte ich ihren bebenden Schlund sehen.
    Also ging Terrell nach draußen und hob den Vogel von der feuchten, kalten Erde auf. Es war Anfang des Frühlings, glaube ich; die Bäume standen in Blüte, die Luft wurde frischer. Bei Tagesanbruch war es noch kühl, doch nach Sonnenaufgang setzte sich die Wärme durch. Ich hatte Terrell schon öfter mit toten Tieren gesehen, aber dieser Rotkardinal war nicht tot. Und Terrell hatte manchmal so eine Sanftheit an sich, die mich erstaunte. Er wiegte den Vogel in den Händen und fächerte mit der Fingerspitze die Federhaube wieder hoch. Wir beobachteten ihn. Sie beide. Nach etwa einer Minute kam der Vogel wieder zu sich und flog davon.
    Auch ich habe es mit eigenen Augen gesehen, wie D. mit seinem Stab auf den Wüstenboden schlug und sogleich alles erblühen ließ. Mit einem Schlag war die Wüste ein grünes Meer, und als wir die Trauben in unsere Münder schoben, waren sie schon zu Wein geworden.
    Ich bin eure Liebe
, sagte D. immer. Auch er hatte diese Sanftheit. Erstaunlich. Doch wenn er die Liebe mit dir teilte, sorgte er dafür, dass es wehtat, damit du wusstest, dass er da war.
    Also glaubte ich Laurels Geschichte nicht wirklich, sah sie aber irgendwie doch mit ihren Augen. Ich kann nicht sagen, was ich damit meine. Es war, als küsste sie die verdorrte Oberfläche meines Gehirns und machte sie fruchtbar. In dem grünen Kristall ihres Blicks sah ich D., wie er sich bückte und den toten Vogel vom Sand aufhob. Braun und leblos, als hätte er überhaupt nie gelebt, hart wie ein Klumpen oder irgendein altes Schieferstück aus der Wüste. D.s Haar wehte ihm seidig in die Augen, und er warf es achtlos nach hinten und senkte erneut den Kopf zu seinen hohlen Händen, um auf den Vogel zu hauchen, ihn mit seinem Atem zu wärmen, bis er alle Spektralfarben annahm. Da lebte er wieder und hüpfte auf D.s ausgestreckten Finger. D. hob die Arme wie ein Apostel. In diesem Augenblick konnte ich das glühend rote Herz in dem Vogel flattern sehen wie Mottenflügel. Dann schwang er sich auf und flog davon, zu den dürren Hängen der Santa-Susanna-Berge im Norden.
    Da wusste ich, dass in Laurels Kopf das gleiche Feuer brannte wie in meinem.

20
    Terrell drückte das Bajonett gegen meine Wange. Manchmal meine ich, es noch immer zu spüren: den kühlen dreieckigen Druck der Spitze auf meinem Fleisch. Und eine Ahnung von Zärtlichkeit, in meinem noch beeindruckbaren Körper,

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