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Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madison Smartt Bell
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in der Haltung meines Bruders oder sogar in der Metallklinge selbst.
    Erzähl’s keinem
, sagte er. Sein Herz schlug schnell gegen meine Rippen. Seine Stimme war ganz leise, seltsam liebevoll, was den Wert unseres Geheimnisses verriet.
Ich bring dich um, wenn du’s wem erzählst
.

21
    Am Morgen hörten wir D. in der Lodge eine Akustikgitarre malträtieren. Er stockte, begann neu, wiederholte eine Phrase und probierte dazu unterschiedliche Texte. Ein paar Mädchen saßen im Schneidersitz auf der Erde, die verschmierten Gesichter nach oben gewandt, die Münder offen, und lauschten den Klängen, die durch den Spalt im Fenster nach draußen drangen. Laurel packte meine Hand und zog mich weg, quer durch den halb geschlossenen Kreis aus Zelt, Bretterverschlag und ausgeschlachtetem Schulbus. Ted arbeitete mit einem Typen, der die farbigen Abzeichen der Motorradgang The Pagans trug, am Motor eines Strandbuggys. Der Biker richtete sich auf, um hinter uns herzustarren. Ich sah mich nicht um, aber ich spürte seinen Blick wie Nadelstiche rechts und links von meinem Rückgrat.
    Wir gingen an der Scheune und der Pferdekoppel entlang. Ein Cowboy war dabei, eine Stute zu striegeln, ein anderer schob eine Karre Mist. Die Anlage diente noch immer als eine Art Freizeitranch; ein paar Leute kamen her, um sich Pferde zu mieten und über die trockenen Hügel zu reiten.
    Laurel rümpfte die Nase wegen des stinkenden hellgrünlichen Mists. »Komm«, sagte sie. »Wir gehen rüber zu Clives Haus. Da gibt’s bestimmt was zu essen.«
    Der alte Clive, dem die Ranch gehörte, saß auf der Betonterrasse vor seinem Häuschen, mitten in der Sonne. Er trug einen großen Stetson-Hut und eine viereckige dunkle Brille. Ein mit neonrotem Klebeband umwickelter Blindenstock lag zwischen seinen Beinen. Creamy kauerte links von seinem Stuhl auf dem Beton, und Clive streichelte ihr Haar, als wäre sie eine Katze. Sie schien das zu mögen. Seine Hände waren faltig, leberfleckig und sehr groß. Er hatte ein angenehmes Lächeln unter den schwarzen Gläsern und blinden Augen.
    Crunchy war in Clives Küche und briet Eier und Corned Beef in einer schwarzen Eisenpfanne. »Teil die Liebe!« sagte Laurel mit einem irren Lächeln zu ihr. »Das VOLK teilt!« Crunchy warf ihr Haar nach hinten, zuckte die Achseln und bedachte mich mit einem ausdruckslosen Blick, als Laurel ihr sagte, wie ich hieß. Dieser Blick war in D.s VOLK ziemlich verbreitet.
    Crunchy verteilte das Essen auf Pappteller. Wir aßen mit Clive auf der Terrasse, ohne extra Stühle von drinnen rauszutragen. Crunchy und Creamy kippten eine erstaunliche Menge Ketchup auf ihr Essen und verrührten alles zu einem blutroten Brei. Sie hatten beide rotblondes, leicht welliges Haar, und sie kleideten sich wie Zwillinge mit Häkelwesten über ihren blauen Arbeitshemden, obwohl sie gar nicht verwandt waren. Manchmal waren sie beide da, manchmal lösten sie sich gegenseitig ab. D. hatte ihnen gesagt, sie sollten dafür sorgen, dass Clive zufrieden war, und das schien er zu sein.
    »Creamy bumst ihn«, erzählte mir Laurel, als wir weggingen und außer Hörweite waren. »Sie sagt, er ist gut.« Falls sie dachte, ich fände das abartig, lag sie falsch. Ich kannte das, hatte es selbst gemacht, Augen zu und durch. Abartig war dagegen diese altertümliche Western-Straße, auf der wir plötzlich waren. Lauter mit verwitterten Brettern verkleidete Häuser, Holzveranden mit gedrechselten Pfosten. Eine Apotheke, ein Sattelladen, ein Gefängnis und ein Saloon …
    »Was ist das?« fragte ich. »Ich komm mir vor wie im Film.«
    »Tja, genau …« Laurel strahlte mich an und stieß die Schwingtür des Saloons auf. Dahinter war nichts, bloß noch mehr Buschland. Die Straße war eine Kulisse, und die Fassaden wurden von dicken Holzstützen aufrecht gehalten, die hinter ihnen in den Boden gerammt waren.
    Ich lachte. Laurel auch. Und dann jagten wir uns gegenseitig, rein und raus durch Türattrappen, die falsche Straße rauf und runter, duckten uns, um zu zielen und mit Zeigefinger und gekrümmtem Daumen aufeinander zu schießen. Laurel rief dabei tatsächlich
peng, peng
. Schließlich ließen wir uns atemlos und keuchend gegen die Rückseite der Saloon-Fassade sinken.
    »Vorsicht«, sagte ich. »Sonst stoßen wir sie um.«
    Laurel kriegte sich gar nicht mehr ein vor Lachen. Dann sprang röchelnd ein Motor an, und sie hörte auf, drehte den Kopf in Richtung des Geräuschs, einen Moment lang wachsam wie ein Fuchs. Sie hatten

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