Die Farbe der Träume
Fantasie entsprungen war. Würde sie kurz weg- und wieder hinschauen, wäre er plötzlich nicht mehr da. Sie fragte sich, ob sie Joseph überhaupt jemals wirklich als den gesehen und verstanden hatte, der er war.
Denn wie war es möglich, dass der Joseph, den sie zu kennen glaubte – von dem kleinen Jungen im handgenähten Kleidbis zum schlaksigen jungen Mann mit rabenschwarzem Haar und einer herrischen Stimme –, jetzt plötzlich überzeugt war, seine und ihre Zukunft liege hier in dieser Graswüste? Wer hatte ihm diese absurde Idee in den Kopf gesetzt?
Es war ein Tag mit leichtem Wind und einem Wechsel zwischen Sonne und kurzen Schauern, die direkt aus einem leuchtenden Regenbogen zu fallen schienen. Zum ersten Mal seit langem blickte Lilian hoch zum Horizont. Sie liebte Regenbögen, da sie taten, was Gott ihnen befohlen hatte: »Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde.« Doch diesen hier musterte sie kritisch, als würde ein neuseeländischer Regenbogen dem Gebot Gottes womöglich nicht ordentlich Folge leisten. Sie zählte die Farben, prüfte die Neigung des Bogens, bestimmte seine Helligkeit. Und sie hörte kaum hin, als Joseph ihr jetzt den Teich erklären wollte; sie war nur mit dem Regenbogen beschäftigt. Nach einer Weile entschied sie, dass er zu groß war: Seine gewaltigen Dimensionen ließen jegliche Demut vermissen. Mit halbem Ohr hörte sie Joseph sagen, im Frühling, wenn die grünen Triebe durch den Schlamm am Teichrand brächen, würden Stockenten und blaue Bergenten den Fluss verlassen, sich häuslich im Teich niederlassen und ihre hübschen Kreise ziehen. Sie fühlte sich zu einer Bemerkung bemüßigt. »Dein Teich muss sich doch nicht notwendig wie englische Teiche verhalten«, sagte sie.
Joseph drehte sich zu ihr um. »Was meinst du damit?«, fragte er.
»Ich meine, dass hier gar nichts so ist, wie man es sich vorgestellt hat«, erwiderte sie.
Auf ihrem Rückweg zum Lehmhaus tröstete Lilian sich mit dem Gedanken, dass sie inzwischen an einem Fluchtplan arbeitete. Der Plan war noch sehr vorläufig und baute viel zu sehr auf unwägbare Faktoren, aber es war ein Plan, und das war immerhin etwas. Es war wichtig, fand sie, im Leben immer einen Plan zu haben. Zum Beispiel hätte sie einen Plan für Rodericks möglichen Tod haben sollen, doch den gab es damals nicht, und jetzt hatte sie ihr altes Leben verloren und die tägliche Prise Hoffnung, die dazugehörte, ebenfalls.
Wenn sie gelegentlich über all das so ehrlich, wie es ihr möglich war, nachdachte, musste sie einräumen, dass dieses riesige leere Land mit seinem stürmischen Wetter und seinen billigen Grundstückspreisen für jemanden, der jung war – und auch Joseph war noch jung – und der sein Herz nicht allzu sehr an irgendetwas gehängt hatte, ein Versprechen sein mochte. Sie wusste, dass Joseph sich vorstellte, er wäre in sechs oder sieben Jahren der erfolgreiche Besitzer einer großen Farm, eines Hauses aus Stein und Holz mit einer Veranda wie bei Mrs Dinsdale und einer Hängematte zum Träumen. Sie wollte nicht ungerecht sein, denn er hatte nie behauptet, dass die ersten Monate ein Kinderspiel sein würden, und er hatte auch die richtige Frau für dieses harte Leben geheiratet. Tief im Innern bewunderte Lilian die feste Zuversicht ihres Sohnes und Harriets Zähigkeit. Zusammen sind die beiden nichts als Muskeln und Knochen und beharrlicher Wille, dachte sie, und wenn diese Eigenschaften etwas zählen, dann werden sie Erfolg haben.
Sie war aber ebenso fest überzeugt, dass es für die beiden sehr viel besser wäre, wenn sie all diese mühselige Arbeit ohne sie verrichten würden. Für Joseph und Harriet gab es hier eine Zukunft, und Lilian wusste durchaus, dass der Mensch das meiste, was er tut, auf einen Traum aufbaut, auf eine Zukunft hin ausrichtet, in der er glücklicher sein wird als in diesem Augenblick. Nur hatten Joseph und Harriet nicht bedacht, dass Lilian in ihrem Alter und an diesem Ort so wenig eine Zukunft hatte, dass sie genauso gut hätte tot sein können. Tage und Wochen und Jahre würden vergehen ohne ein Publikum für ihren Gesang. Die Winde würden in ihrem Kopf lärmen und ihre Gedanken verwirren. Ihr Porzellan würde wieder an denselbenStellen brechen, an denen sie es zusammengeklebt hatte. Sie würde allen Mut verlieren.
Deshalb versuchte sie, sich einen Plan zurechtzulegen.
Und als Joseph das nächste Mal mit Wagen und Esel nach
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