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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Angst, sich zu verirren und von der Nacht überrascht zu werden.
    Abends aßen sie Hammeleintopf mit Karotten und ein paar von Lilians mürben Kakaokeksen und hörten die Kuh und den Esel irgendwo da draußen in der Dunkelheit klagen. »Ich habe mich schon oft gefragt«, sagte Lilian, während sie das Besteck wegräumte, »warum Gott den Tieren solche hässlichen Stimmen gegeben hat.«
    In der Nacht fiel dann Schnee.
    Er fiel unbemerkt, während die drei Menschen schliefen, türmte sich auf dem Blechdach des Lehmhauses, wurde vom Wind gegen die Fenster gedrückt, versperrte die Tür. Zwar wachten Joseph und Harriet bei Tagesanbruch auf, aber sie drehten sich wieder um und schlossen die Augen, da es in ihrem Zimmerimmer noch dunkel war und sie dachten, es wäre noch Nacht. Lilian, die mehr und mehr eine Leidenschaft für den Schlaf entwickelte – ihn geradezu mit Inbrunst suchte, als wäre er Opium –, segelte noch durch ihr Traumland, in dem sie häufig auf der Bühne eines der großen Opernhäuser dieser Welt stand.
    Als Harriet schließlich aufwachte, weil das Dach sich unter dem Gewicht des Schnees ächzend zu biegen begann, brauchte sie einen Moment, um zu begreifen, was geschehen war. Sie weckte Joseph, und nun starrten beide in ihren Nachthemden auf das seltsame graue Licht im Raum. Sie zogen sich eilig an, rieben vergeblich die blinden Fensterscheiben mit den Händen von innen. Sie gingen zur Tür und versuchten sie zu öffnen, aber sie gab nur wenige Zentimeter nach. Sie horchten auf Geräusche von ihren Tieren und hörten nichts.
    Josephs Gedanke war: Ich bin einem Sarg in England entkommen. Jetzt errichtet die Natur einen neuen um mich herum.
    Doch da war dieser zentimeterbreite Spalt zum Licht hinter der Tür. Joseph hatte kein Werkzeug im Haus, aber er hatte seine Hände und sein Geschick.
    Lilian war jetzt auch auf, und Joseph wies die beiden Frauen an, Feuer im Herd zu machen und Wasser aufzusetzen. Er würde die Schneewehe vor der Tür wegschmelzen. Er betete, dass der Kamin über Nacht so viel Restwärme gespeichert hatte, dass der Schnee ihn nicht verstopfen konnte. Er nahm einen Stock und begann, damit die Tür zu bewegen, mühsam einen Zentimeter, zwei, drei, vier …
    Die Braunkohle wollte nicht brennen. Sie schwelte wie feuchter Torf, und binnen Minuten war der Raum völlig verqualmt. Harriet und Lilian hielten sich ihre Schürzen vor den Mund und gingen an die Tür, um ein paar Züge frostiger Luft zu atmen. Im Lehmhaus schien es immer kälter und dunkler zu werden. Lilian zündete die Öllampen an. Beide Frauen versuchten erneut, das Feuer im Herd in Gang zu bekommen, siebten brauchbare Kohlereste aus der Asche und entfachten tatsächlich mit Holzspänen eine Flamme, eine winzig kleine Flamme, die aufflackerte und sofort wieder erlosch.
    Sie versuchten es beharrlich weiter, während Joseph an der hohen Schneewehe hinter der Tür schabte und bohrte, bis Lilian einen derart heftigen Hustenanfall bekam, dass sie sich schon tot auf den Lehmboden sinken sah. Durch den allmählich breiter werdenden Spalt konnte sie mit tränennassen aufgerissenen Augen erkennen, dass hinter der Tür noch immer Schnee fiel: in dicken Flocken, klebrig wie Haferschleim. Sie hatte so etwas noch nie gesehen und fluchte stumm, während sie in der verräucherten Zimmergruft nach Luft rang.
    Harriet holte Wasser für Lilian und begriff mit einem Mal, wie töricht sie alle waren. Drei angestrengt arbeitende Hirne, und alle drei hatten etwas Offensichtliches nicht bedacht.
    Sie reichte Lilian die volle Tasse, dann hob sie den schweren Eisendeckel vom Herd und drückte ihn auf die rauchende Kohle. Sie ging an eines der Fenster. Der Schnee auf dem Fensterbrett lag fast zwanzig Zentimeter hoch, aber das Fenster ließ sich so weit öffnen, dass sie mit der Hand nach draußen langen und den Schnee wegschieben konnte. Sie lehnte sich hinaus und schaute auf eine weiße Welt, in der nichts zu erkennen war und sich nichts bewegte. Bis auf die Schneeflocken, die völlig lautlos und doch mit einer Art hektischem, stummem Brausen niederfielen, wie eine schweigende Menschenmenge, die ängstlich versucht, den letzten freien Platz an einem längst überfüllten Ort zu ergattern.
    Der Rauch im Zimmer verzog sich allmählich durch die Öffnungen in Fenster und Tür. Lilian wickelte sich fest in ihre Stola, sank auf einen Stuhl und wischte sich den Mund. Sie blickte erst zu Harriet, die mit gerafftem Rock auf das Fensterbrett kletterte, und

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