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Die Farbe der Träume

Die Farbe der Träume

Titel: Die Farbe der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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dann zu dem kalten Boden, wo sie eben beinahe gestorben wäre.
    Harriet schob sich durch das Fenster und sprang hinunter in den Schnee.
    Der Schnee lag so hoch, dass er ihr von oben in die Stiefel fiel und an ihren warmen Beinen schmolz. Und dieser eiskalte, schmelzende Schnee an ihren Füßen tat sehr weh.
    Sie rief nach Beauty.
    Joseph versuchte, ihr durch das schmale Fenster zu folgen, streckte und faltete seine langen Glieder, blieb mit der Jacke an einem Nagel hängen, fluchte, als er sie reißen hörte. Er zog die Schaufel, die an der Hauswand lehnte, aus dem Schnee, und beide begannen – mit der Schaufel und mit den Händen –, einen Weg zu graben, der um das Lehmhaus herum zur Tür führte. Aber hinter ihnen bedeckte sofort wieder frischer Schnee den soeben freigeräumten Weg. Und der Schnee war schwer wie Lehm oder Sand, der Eindruck von Leichtigkeit nur eine Täuschung.
    Harriets Haare hatten sich gelöst, ihre Kopfhaut war schweißnass, und ihre Wangen brannten, aber ihr Blick war entschlossen. Dann hörten sie plötzlich ein fernes Iahen und wussten, dass jedenfalls der Esel noch lebte, aber kein anderer Laut drang durch die Stille. Harriet hielt einen Moment inne und sagte zu Joseph: »Auch wenn Beauty verloren ist – wir machen weiter.«
    »Wir machen weiter, Harriet«, bestätigte er, ohne seine mühselige Arbeit zu unterbrechen, und Harriet dachte: Ja, genau, solch ein Mann ist er. Wenn er eine Sache einmal angefangen hat, gönnt er sich keine Pause.
    Sie machte sich wieder ans Schaufeln. In England fiel der Schnee niemals so schnell und so verstohlen. Und da er mit dem überraschenden Südwestwind gekommen war, einem Wind, den sie nicht verstanden, reichte er ihnen an der Südwand des Hauses bis zur Taille – als hätte es eine Woche lang ununterbrochen geschneit.
    Immer wieder rief Harriet: »Beauty!« Denn die Kuh war ein folgsames Tier und kam stets angetrottet, wenn sie den Namen in die weite, leere Luft hinausschickten. »Beauty!« Und sie horchten in das weiße Schweigen, ob es irgendwo muhte. Doch da war nichts.
    Inzwischen hatten sie die Ecke der westlichen Hauswand erreicht. Harriet wurde durstig, sie nahm eine Handvoll Schnee in den Mund und ließ ihn an den Zähnen schmelzen.
    Im Haus konnten sie Lilian husten hören. Und als sie sich umdrehten, um einen Pfad zur Tür freizugraben, sah Harriet Beautys Mantel – einen Zipfel Schottenkaro, der aus einem Hügel neben der Haustür hervorschaute.
    »Da ist sie, Joseph!«
    Sie stapften durch den hüfthohen Schnee – Joseph, der seiner Frau einen Weg zu bahnen versuchte, voran – zu dem Hügel, der Beauty war. Die Kuh hatte nur getan, was sie häufig in kalten Nächten tat, sie war zum Lehmhaus gekommen und hatte sich, auf der Suche nach etwas Wärme, in seinem Schutz niedergelegt.
    Harriet dachte: Ich habe sie immer atmen gehört, aber vergangene Nacht habe ich nichts gehört. Der Schnee hat jedes Geräusch verschluckt.
    Sie legten Beautys Kopf frei. Dann entfernten sie hastig den gefrorenen Schnee aus ihren Nüstern, klopften ihr auf den Nacken, hielten die Gesichter dicht an ihren Kopf, um ihr den eigenen Atem zu schenken. Aber ihre Schnauze, die einst so warme, weiche, feuchte, war jetzt hart und fest. Ihre Bernsteinaugen waren unter ihren lang bewimperten Lidern nach hinten gerollt.
    Mit Tränen in den Augen kniete Harriet im Schnee und zupfte mit der Hand hilflos an dem lächerlichen Schottenmustermantel. Sie empfand jetzt die allergrößte Bewunderung für ein Tier, das so langsam sterben konnte, so geduldig und so stumm.

D IE O RCHARD -F ARM
I
    Toby Orchard war ein schwerer Mann, der sich durch seinen Beruf in der Londoner Finanzwelt stets eingeengt, unglücklich und dem Ersticken nahe gefühlt hatte.
    Eine innere Stimme hatte ihn Tag und Nacht angefleht: Befrei mich, befrei mich, befrei mich . Als sein Leibesumfang wuchs und die Knöpfe seiner maßgeschneiderten Jacketts ständig absprangen, wurden seine Träume von einem eigenen Horizont immer leidenschaftlicher. Unruhig glitten seine braunen Augen über die verrußten Dächer und Turmspitzen der Threadneedle Street und über die Stadtmauer, und was sie sahen, fand er furchterregend. Er sehnte sich danach, unter einem gewaltigen Himmel starke, unverwüstliche Pferde zu reiten, mit Waffen zu hantieren und Hunde anzutreiben. Er glaubte sterben zu müssen, wenn diese Sehnsucht sich nicht erfüllte.
    1856 schiffte er sich zusammen mit seiner Frau Dorothy, einer reichen Erbin, nach

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