Die Farbe der Träume
Christchurch fuhr, um Vorräte zu kaufen, gab sie ihm einen Brief an Mrs Dinsdale mit. Sie erklärte Lily Dinsdale, dass sie einige Wertsachen besitze, die sie von ihrer Mutter, der Pfarrerswitwe, geerbt habe. Dazu gehörten, schrieb sie, ein schöner Elfenbeinfächer, Kamm und Bürste aus Schildpatt mit passendem Necessaire, eine Perlenschnur, eine Rubinbrosche und mehrere Ringe. Sie wolle diese Dinge ins Pfandhaus bringen (denn sie ging davon aus, dass es in Christchurch Pfandleiher gab, weil Siedler an einem neuen Ort stets Phasen von Armut durchstehen mussten) und mit dem erhaltenen Geld ihr altes Zimmer bei Mrs Dinsdale so lange mieten, bis sie eine Arbeit in der Stadt gefunden hätte.
Obwohl sie noch nie in ihrem Leben »auswärts« gearbeitet hatte, sah sie darin kein unüberwindliches Hindernis. Sie überlegte, ob man sie nicht möglicherweise in dem Bekleidungsgeschäft brauchen könnte, wo der Laura-McPherson-Gesangverein seine Proben abhielt. Sie hatte ein Talent zum Ordnen und Sortieren. Und daran fehlte es ganz eindeutig, wie ihr der Anblick all der Kartons in dem Lagerraum klargemacht hatte. Sie wusste nicht, wie viel eine Person ihres Standes für eine derartige Arbeit verlangen konnte, aber vermutlich würde es für das Leben in Christchurch reichen. Und sie hatte vor, dort zu bleiben. Sie würde nicht versuchen, übers weite Meer zurück nach England zu reisen. Ihr Haus in Parton Magna gab es nicht mehr, es war für Rodericks Spielschulden draufgegangen. Und bei der Vorstellung, eine Wohnung in England zu mieten, musste sie ganz plötzlich weinen. Immerhin würde sie in Christchurch in der Nähe der Küste sein. Sie würde wissen, welche Schiffe gerade aus der Alten Welt kamen und welche dorthin fuhren. Und während sie sich mit Mrs Dinsdale und Laura McPhersonund deren Freundeskreis ein einigermaßen erträgliches Leben einrichtete, bliebe die Möglichkeit einer Rückkehr nach England stets in Sichtweite.
Lilian ging in ihr Zimmer, das natürlich gar kein richtiges Zimmer war, sondern nur eine Art Zelt im Haus ohne jede Privatsphäre, von wo sie alles hören konnte – wirklich alles –, was um sie herum vorging.
Sie holte ihren Fächer, den Kamm und die Bürste, das Necessaire und ihren Schmuck hervor und betrachtete alles. Es war eine hässliche Tatsache des Lebens, dass man für den Erwerb von etwas Wertvollem stets mehr bezahlen musste, als man gedacht hatte, und wenn man es wieder veräußern wollte, hatte sich der Wert stets auf geheimnisvolle Weise verflüchtigt. Aber wohin hatte er sich verflüchtigt? Lilian hätte gern in einer Gesellschaft gelebt, in der die Menschen die Antwort auf solche Fragen wussten.
Als die Wertsachen, auf denen Lilians Plan beruhte, nun hier auf ihrem Bett in diesem Zelt im Lehmhaus lagen, kamen sie ihr plötzlich anachronistisch vor – wie ein Altar für irgendeine Gottheit, die die seltsamsten Opfer verlangte, sich dann aber davongemacht hatte. Lilian arrangierte Perlen, Fächer, Haarbürste, Kamm und Necessaire neu, aber sie wirkten immer noch fehl am Platze und eigenartig wertlos. Lilian starrte sie lange an; dann überkam sie eine derart tiefe Müdigkeit, dass sie alles unter ihr Kissen schob, sich auf die harte Matratze legte und auf der Stelle einschlief. Es war mitten am Nachmittag, und Joseph und Harriet waren dort, wo sie immer waren, draußen im Freien, und als Lilian die Augen schloss, wusste sie, dass die beiden da draußen sie komplett vergessen hatten.
IV
An einem Abend Anfang Juli änderte sich der Wind. Ein steifer Südwest setzte ein und wälzte einen kalten, geräuschlosen, kriechenden Nebel vor sich her.
Als Harriet draußen die Hühner füttern wollte und in der weißen Düsternis nach ihnen rief, schien eine Schwere in der Luft zu liegen, als zöge und zerrte der Himmel jetzt an der Erde. Zurück im Lehmhaus, sagte sie zu Joseph: »Irgendetwas braut sich zusammen.«
Joseph stellte sich in die Tür. Er spürte, wie der Nebel ihn einhüllte und erschauern ließ. Er holte Beauty von der Weide und legte ihr den Mantel um. Während er die Kuh festband, muhte sie die seltsame Luft an. Und auch den Esel in seinem Gehege hörte Joseph iahen. Nicht zum ersten Mal fühlte er sich als der ahnungslose einsame und sorgenvolle Siedler, der die Zeichen des Windes nicht zu lesen vermag. Er überlegte, ob er den Esel anspannen und zur Orchard-Farm fahren sollte, wo man ihm sagen könnte, was sich da mit dem Südwestwind zusammenbraute. Aber er hatte
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