Die Farbe des Himmels
Leichenstarre in den kleinen Gelenken ist schon eingetreten«, murmelte Krach, während er Wolf Hausers Kiefermuskulatur und die Handgelenke befühlte. »Ich würde sagen, er ist seit etwa drei Stunden tot, vielleicht etwas länger.« Er schlug Hausers Bademantel vorsichtig zurück. »Die Leichenflecken sind zu erkennen, aber noch nicht voll ausgeprägt und leicht wegdrückbar.« Er richtete sich auf. »Drei Stunden minimum. Genaueres gibt es nach der Sektion.«
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28. November 1973
Wir sollten heute ein Bild zum Thema Geborgenheit malen. Ich saß vor dem leeren Blatt und habe nachgedacht. Schließlich habe ich eine nächtliche Straße gemalt, schwach beleuchtet vom Schein der Laternen, ein großes, dunkles Haus mit hellen Fenstern, und auf der Straße eine Frau, die den Mantelkragen hochgeschlagen hat und sehnsüchtig nach den erleuchteten Fenstern schaut.
Dali hat sich mein Bild lange angesehen und dann gesagt, ich sollte doch Geborgenheit malen und nicht das Gegenteil davon. Da wurde mir klar, wie ausgeschlossen ich mich fühle, und dass ich mir Geborgenheit nur außerhalb von mir selbst vorstellen kann.
Das Bild der Signora war ganz anders als meins. Sie hat ein blühendes Mohnfeld mit einem azurblauen Himmel gemalt, in den Zypressen wie dunkle Lanzen stechen. Im Geiste hat sie bestimmt wieder Celentano singen gehört.
Seltsamerweise hat mich das Bild sehr berührt. Plötzlich ist eine Sehnsucht in mir aufgestiegen, die ich kaum erklären kann. Für einen Augenblick habe ich mich dorthin gewünscht, einfach weg von hier und den Dingen, die ich lieber vergessen möchte. Ich glaube, dies ist eine Landschaft, in der meine Seele gesund werden könnte, wenn das überhaupt jemals möglich ist.
Wahrscheinlich habe ich heute zum ersten Mal verstanden, was in der Signora vorgeht, wenn sie stundenlang ihr »Azzurro« hört. Sie sagt, so würde der Himmel über Italien aussehen. Nirgendwo anders auf der Welt sei er so blau. Und das Lied erinnere sie an eine unglückliche Liebe und die schönste Zeit ihres Lebens. Ich kapiere nicht, wie sich eine unglückliche Liebe und diese schreckliche Schnulze mit der schönsten Zeit ihres Lebens vereinbaren lassen, aber sie lächelt nur ein wenig herablassend und meint, ich sei eben noch zu jung, um das zu verstehen. Wie dem auch sei, ich hasse das Lied. Mir wird übel, wenn ich bloß die ersten Takte höre.
Aber irgendwie beneide ich sie auch um diese Erinnerungen. Eine unglückliche Liebe ist sicher besser als gar keine.
Ich weiß nicht, oh ich für einen Mann jemals so empfinden kann wie die Signora, aber ich wünsche es mir.
Dali behauptet natürlich, es sei pure Illusion, die Geborgenheit außerhalb von sich selbst zu suchen. Aber tun das nicht alle? Die meisten suchen sie in einem anderen Menschen. Die Signora sucht sie in ihrer Heimat. Und ich? Wenn doch damals dieser schreckliche Flugzeugabsturz nicht gewesen wäre. Dann wären Mama und Papa noch am Leben. Und ich wäre gar nicht hier und müsste mich nicht mit der idiotischen Aufgabe herumschlagen, die innere Geborgenheit zu malen.
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Das Polizeipräsidium Stuttgart liegt oberhalb der zu jeder Tageszeit dicht befahrenen Kreuzung am Pragsattel, wo der höchste Wolkenkratzer Deutschlands, der »Trump-Tower«, hätte gebaut werden sollen. Doch nach monatelangen Diskussionen im Rathaus und in der Öffentlichkeit hatte die Stadt ihr Vorhaben zurückgezogen. Vor allem nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York war die Stimmung umgeschlagen, von den hohen Baukosten ganz abgesehen. Prompt war die Stadt von der Baugesellschaft verklagt worden, doch letztendlich war Stuttgart ein umstrittenes Bauwerk erspart geblieben.
Im verzweifelten Kampf gegen die endlosen Blechlawinen und Abgase hatten die Stadtväter beschlossen, den Pragsattel zu untertunneln. So war das Gelände innerhalb weniger Wochen zu einer riesigen Baustelle mutiert, was das Verkehrsproblem nur noch verschlim merte.
Hinter dem langen Polizeigebäude, das bis in die siebziger Jahre das Robert-Bosch-Krankenhaus beherbergt hatte, erstreckten sich Weinberge. Hier rangen die berühmten Trollinger- und Rieslingreben unverdrossen ums Überleben, getreu dem Motto: Was uns nicht umbringt, macht uns stark.
Nach derselben Devise verrichteten die Beamten der Mordkommission täglich ihren Dienst. Als Thea das schmale Schreibbüro betrat, in dem außer dem Schreibtisch der Angestellten kaum mehr als drei Stühle Platz fanden, überlegte sie,
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