Die Farbe des Todes: Ein Veronica-Sloan-Thriller (German Edition)
machte? Die Männer, die sie sonst regelmäßig zum Lunch vernaschte und zum Abendessen wieder ausspuckte, hätten sich krank gelacht, wenn sie gesehen hätten, wie sie hier mehr oder weniger unbewusst anzügliche Wortspiele von sich gab. Das war sonst gar nicht ihre Art. Ronnie war immer unverblümt und direkt gewesen. Wenn sie mit einem Mann Sex haben wollte, sagte sie das ganz einfach, überzeugte sich, dass er keine ärgerlichen Krankheiten hatte, und ließ alle Empfindlichkeiten mit den Hüllen zusammen fallen. Bei Sykes dagegen merkte sie, wie sie um diese riesengroße Sache zwischen ihnen herumtanzte, so nervös wie eine Jungfrau auf der Party einer Studentenverbindung. Es war einfach dämlich. Und es ärgerte sie maßlos.
»Ich komme darauf zurück.« Sykes lachte in sich hinein. Das Grübchen in seiner Wange zeigte sich kurz, aber er war so anständig, die Sache nicht weiter zu verfolgen. Zum Glück. »Deine zuerst. Meine nehmen wir später, und dann lassen wir sie nebeneinander auf dem Bildschirm laufen und gucken mal, ob uns Ähnlichkeiten auffallen.«
»Gute Idee. Glaubst du, die letzten zehn Minuten reichen?«, fragte Ronnie.
»Ich habe das Autopsieprotokoll gelesen. Meinst du wirklich, sie hatte nach achtzig Minuten die Augen noch offen?«
»Sie könnte sogar mit offenen Augen gestorben sein. Vielleicht hat sie mit dem letzten Atemzug noch ein Bild vom Gesicht des Mörders in sich aufgenommen.«
»Ist einen Versuch wert – zurückgehen können wir dann ja immer noch.«
Okay. Zehn Minuten. Zehn Minuten Hölle, da war Ronnie sich sicher.
Sie verspannte sich, konnte ihr Unbehagen nicht verbergen. Wenn es schon schwer gewesen war, die letzten Stunden eines Todeskandidaten mitanzusehen, wie würde das erst bei einem Mordopfer werden, einer netten, hübschen jungen Frau, deren größtes Verbrechen vielleicht ein heimlicher Freund gewesen war? Und obendrein würden sie alles in Lebensgröße sehen, das echte, dreidimensionale Böse.
Das Sehen war etwas so Persönliches, Intimes. Zum Teil war Dr. Tates Mikrokamera so genial, weil sie fast die Fähigkeit zu besitzen schien, die emotionalen Reaktionen ihres Trägers oder ihrer Trägerin zu übermitteln, seine oder ihre Gefühle lebendig werden zu lassen für diejenigen, die die Aufnahmen später betrachteten. Ein panisches Hin- und Herschauen zwischen verschiedenen Objekten baute Spannung auf und erzeugte Angstgefühle. Ein langes, begehrliches Starren verriet ganz einfach Sehnsucht oder Verlangen. Ein Blick, der zärtlich auf einem geliebten Gesicht ruhte, war sanft, unverkennbar. Tränen ließen nicht nur das Bild verschwimmen, sondern beschworen so viel Leid und Kummer herauf, dass Ronnies Augen zu brennen begannen.
Unpersönlich zu bleiben war in diesem Job unmöglich. Es war nicht möglich, diese Bilder wie Tatortfotos zu betrachten, die erst Stunden nach dem Verbrechen aufgenommen waren, wenn die Seele des Opfers, falls es denn so etwas gab, längst davongeflogen war. Es würde kein Spurensicherungsteam geben, keine Neulinge, die gelbe Absperrbänder aufstellten, keine Zeugen, die behaupteten, den Tathergang zu kennen, keine abgebrühten Polizisten, die Witze rissen, während ihnen insgeheim doch flau war. Hier gab es nur Opfer und Täter.
Und Ronnie und Jeremy. Sobald sie sich die Bilder anschauten, würden sie sich mitten im Geschehen befinden, unabhängig davon, ob sie dabei auf diesen Matten standen oder nicht. Es war die höchste Stufe des Voyeurismus.
Aber außerdem ist es dein Job, und für diese arme Frau ist es die beste Chance, dass ihr noch Gerechtigkeit zuteil wird. Also hör auf, im Geiste die Hände zu ringen, und leg los.
Ronnie schaltete den Projektor ein, so wie Dr. Cavanaugh es ihnen gezeigt hatte.
»Jetzt beim ersten Mal gehen wir nicht rein, oder?«, sagte Sykes.
»Ich denke nicht.«
»Nein. Ich glaube, dazu wäre eine gründliche mentale Vorbereitung erforderlich.«
»Oder eine Menge Alkohol.«
Sie scrollte zu den letzten zehn Minuten von Leanne Carrs Leben hinunter, markierte die Liste der Bilder, sechshundert insgesamt, zog sie in eine Diashow und stellte die Geschwindigkeit der Bildabfolge so langsam, wie es ging. Erst einmal wollte sie jedes Foto einzeln betrachten, um jeden Eindruck zu erfassen und zu interpretieren. Später würde sie das Tempo beschleunigen und die Ereignisse eher wie in einem Film sehen. Im normalen Leben nahmen die Menschen ja nicht nur ein Bild pro Sekunde wahr. Das menschliche Gehirn
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