Die Farbe des Todes: Ein Veronica-Sloan-Thriller (German Edition)
ich vermute doch, dass er mindestens Schuhgröße siebenundvierzig hatte.«
Das war Ronnie auch aufgefallen. »Auf einem Bild konnte man seinen Schuh im Verhältnis zu dem grünen Lichtkreis sehen, den die Notausgangsleuchte warf. Bestimmt können wir Dr. Cavanaugh oder jemanden aus ihrem Team bitten, die Maße festzustellen, und dann können wir seine Schuhgröße ziemlich genau einschätzen.«
»Super.«
Wieder Schweigen. Überlegen, verdauen, nachdenken.
Sortieren. Ronnie zumindest sortierte ihre Emotionen, packte die Wut und die Trauer zusammen und verstaute sie in getrennten Schubladen ihres Hirns. Nur ihre analytischen Fähigkeiten und ihre berufliche Intuition hielt sie griffbereit.
»Den Grubenhelm«, sagte Sykes, »hätte ich nicht erwartet.«
»Ja, stimmt.«
Sich ganz in Schwarz zu kleiden war ein guter Anfang gewesen, um seine Identität vor der Kamera unkenntlich zu machen, aber sein Opfer – und damit die OEP -Kamera – mit schmerzhaft hellem Licht zu blenden, war ein Meisterstück. Hinter der Grubenlampe war er praktisch nicht zu sehen gewesen.
»So was hat man nicht einfach im Auto rumliegen. Er hat sorgfältig geplant und den Helm mitgebracht.«
»Unser Job ist jetzt noch viel schwieriger geworden, oder?«, fragte Ronnie. »Es ist einfach ausgeschlossen, dass er von der Kamera nichts wusste. Ich meine, es war vorher auch schon unwahrscheinlich, aber die Lampe am Helm beweist es jetzt.«
»Ich fürchte ja.« Jeremy verschränkte die Arme. »Wir werden uns das noch mal ansehen müssen.«
»Ich weiß.«
Doch Ronnie drehte sich noch nicht zu ihrer Tastatur um. Sie brauchte einfach noch ein bisschen Zeit.
Sykes fragte nicht nach, ob alles okay war, und dafür war sie ihm dankbar. Denn nur ein Unmensch hätte nach dem, was sie gerade gesehen hatten, ihren Zustand mit »okay« beschreiben können. Ronnie würde noch eine ganze Weile darunter leiden. Aber um ihren Job zu machen, brauchte sie nicht gut drauf zu sein. Da waren nur gute Beobachtungsgabe und Aufmerksamkeit gefragt. Und Stärke.
Endlich, als sie sich so gut gewappnet hatte, wie sie konnte, drehte sie sich zu ihrem Computer und stellte eine neue Diashow zusammen. »Ich denke, wir sollten ganz von vorn anfangen.«
»Am Anfang des Tages? Oder bei Leannes Ankunft im Weißen Haus?«
»Lass uns damit anfangen, wie sie an dem Morgen zur Arbeit kommt. Irgendwas hat sie veranlasst, zum Weißen Haus zu fahren. Vielleicht haben wir ja Glück und können sehen, was das war.«
Und wenn nicht, würden sie vielleicht wenigstens sehen können, wem Leanne begegnet war, als sie dort ankam, vielleicht einen Blick auf den Unbekannten erhaschen, der sie mit der Elektroschockpistole betäubt hatte. Ronnie glaubte zwar, dass der Mörder sie überrascht und versucht hatte, seine Identität zu verheimlichen – später jedenfalls hatte er das sehr sorgfältig getan. Aber jeder machte Fehler. Nur eine kleine Panne war nötig, eine Spiegelung in einem Fenster, ein rascher Blick auf ein Profil oder einen Ärmel von einem Anzug oder einer Uniform. Irgendetwas.
Sie starteten erneut. Diesmal hatte Ronnie das Tempo etwas erhöht, aber sie hielt die Fernbedienung fest in der Hand, um die Bilderfolge zu stoppen, sobald ihnen etwas Wichtiges auffiel. Es würde mehrere Stunden dauern, die Bilder durchzugehen, daher wollten sie sich nicht auf jedes einzelne konzentrieren und schon gar nicht auf die ersten am Morgen.
Es wurde dunkel im Raum.
Leannes Arbeitstag stieg wie ein Nebel von Erinnerungen aus dem Fußboden auf. Geister und Dunstfetzen der Vergangenheit nahmen Gestalt an.
Und Ronnie und Jeremy waren dabei.
Alles lief gut, bis um 9:48 Uhr, als Leanne gerade im Bürogebäude der Phoenix-Gruppe an ihrem Schreibtisch saß, die Bilder schwarz wurden.
Jeremy murmelte einen Fluch. »Aber Dr. Cavanaugh hat ja gesagt, dass sie einige Stellen nicht mehr hingekriegt hat.«
Wenn ihnen jetzt bloß nicht das Gespräch, die Nachricht oder der Anruf entging, der Leanne in den Tod getrieben hatte. Ronnie rechnete zwar nicht damit, dass sie beim entscheidenden Telefonat den Namen oder die Telefonnummer des Anrufers auf einem Display entdecken würden, oder dass sie beobachten konnten, wie Leanne von ihrem Chef oder einem Kollegen zum Weißen Haus begleitet wurde, aber es war doch immerhin möglich.
Sie ließ die Bilder schnell vorlaufen. Etwa sechs Minuten später wurde es wieder hell. Eine Aufnahme auf der Toilette. Unangenehm. Peinlich. Verletzung der Privatsphäre.
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