Die Farbe Des Zaubers
wiederhergestellt hatte. Doch zu ihrer Bestürzung rührten sich die geborstenen Torflügel nicht.
»Wir befinden uns jetzt im Reich anderer Götter«, sagte Ischade, als sie das Tor hinter sich ließen, an den Schatten leerer Tierpferche vorbeigingen und an der großen Mauer, die den Basar umgab. »Fast alle Kräfte, außer ihren eigenen, sind hier geschwächt, fürchte ich. Wenn Euer anderes Ich diesen Trick noch einmal im Innern versucht, muß sie mit einer Überraschung rechnen, denn sie war noch außerhalb der Hölle, als sie ihre Kraft einsetzte.«
Mriga nickte, und sie folgten der Straße, die zum Basar führte. Fast alles war wie gewohnt: die Abfallhaufen, der Gestank, der Müll in den Gossen, die Menge. Doch die dunklen Gestalten hier sahen aus, als kümmere es sie nicht, wo sie sich befanden — ein erschreckender Gegensatz zu den Gestrandeten an der anderen Flußseite. Als Mriga ihren Blick auf der Suche nach Höllenfeuer über die Stadt wandern ließ, fand sie nichts weiter als die gleichen verstreuten Rauchfahnen und den Geruch von Schwelbrand, wie man sie im Freistatt der Tageswelt gewöhnt war. Die tiefhängenden Wolken jedoch waren wie von vielen Feuern beleuchtet.
Beim Weitergehen hatte Mriga Gelegenheit, den Grund dafür zu erkennen und zu verstehen, daß es hier einen Unterschied zwischen den Toten und den Verdammten gab. Viele der dunklen Gestalten trugen ihr eigenes Höllenfeuer mit sich — leuchtende Flammen der Wut; glutrote Enttäuschungen, unterdrückt und bitter; die heißen, lichtverschlingenden Dunkelheiten, die Neid und Habgier waren; der blindmachende, mit Feuerzungen durchzogene Qualm der Lust und der Machtgier, der nie versiegte. Einige Vorüberkommende wiesen Spuren alter Brände auf, die 71 längst erloschen waren. Sie waren nun ausgebrannte Schlacke, weder lebend, noch tot. Doch am schlimmsten fand Mriga die vielen, vielen Toten, die noch nicht genug gelebt hatten, um auch nur ein bißchen zu brennen, für die sowohl Sünde als auch Lust nichts bedeutete. Sie gingen stumpf an den flammenden Verdammten vorbei und an den Göttinnen, und weder Höllenfeuer noch das kalte, reine Licht von Sivenis Speer ließ etwas in ihren Augen erkennen.
Sie stießen jedoch bald auf noch Schlimmeres. Es gab Orte, die offenbar so verdammt waren wie Menschen; Orte, die Mord gesehen hatten und Verrat und sie immer wieder sahen, ohne Ende: Die ursprünglichen Beteiligten zerrten die vorbeikommenden Toten an diese Flecken, um die alten Grauen erneut zu vollziehen. Einige Gestalten, die man dort sah, waren dunkler als andere und mit anderen Martern geschlagen: Schlangen wuchsen aus ihrem Fleisch und kauten daran; auf menschlichen Körpern saßen Tierköpfe oder auf Tierleibern Menschenköpfe; Gliedmaßen wurden brandig, verwesten, fielen ab und wuchsen wieder, während ihre Besitzer gleichmütig dahinspazierten, als wäre alles völlig in Ordnung ...
Harran ist jetzt hier unten , dachte Mriga. Wie werden wir ihn finden? In seinem Verlangen nach Siveni schmorend; von Schuld gequält über die Art und Weise, auf die er mich einst benutzte? Oder waren diese Leidenschaften zu frisch, als daß sie Zeit gehabt hätten, in seiner Seele Wurzeln zu schlagen — so daß wir ihn vielleicht als einen der Stumpfsinnigen finden, die absolut nichts bewegt. Angenommen, er — will nicht zurück ...
Die vier hatten den Basar erreicht. Sie beeilten sich, ihn zu durchqueren, denn er war voll von Tieren, die zielstrebig umhergingen und sich mit Tierstimmen — Wiehern und Brüllen und Kreischen - zu verständigen schienen. Doch die Ware, die hier feilgeboten wurde, waren Menschen: gekettet, stumm, mit erschreckend flehenden Augen. Die vier hasteten hinaus auf die südliche Straße, die um die Mauer des Statthalterpalasts führte. »Da all dies Freistatt nicht ganz unähnlich ist«, sagte Siveni und schaute sich im Schein ihres Speeres um und wirkte besorgt. »...nehme ich an, daß sich die Gesuchte im Palast aufhält.«
»Das glaube ich auch«, bestätigte Ischade ruhig. »Das Südtor ist geschlossen.«
Mriga bemerkte, daß Tyr zurückgeblieben war, um an Ischades anderer Seite herzulaufen, und mit eigenartigem Gesichtsausdruck zu ihr aufblickte.
»Was ist eigentlich Eure genaue Abmachung mit ihr?« fragte Mriga leise, aber so, daß sie über die ständigen Schmerzenslaute auf der Straße gehört werden konnte. »Ihr müßt doch eine haben.«
Ischade schwieg. »Bitte verzeiht«, sagte Mriga. »Ich hätte nicht fragen
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