Die Farben der Freundschaft
aber es war Mutter, die in dem leeren Raum stand. Sie drehte sich hastig zur Tür um. Ein enttäuschter Blick huschte über ihr Gesicht, als sie sah, dass ich dastand und nicht Julian. In ihren Augen lag ein tiefer Schmerz.
»Er ist fort«, sagte sie leise.
»Nein!«
»Ich bin aus der Galerie sofort hierher, als ich hörte, dass in Soweto geschossen wird. Aber zu spät …« Ihre Stimme schwankte.
Ich lief zu ihr, und wir hielten einander fest, atmeten den Geruch der Farben und Julians Parfüm ein, und die Erinnerung an jeden seiner kraftvollen Striche, an jede seiner Skizzen hing schwer in der Luft.
»Er hat eine Nachricht hinterlassen.« Mutter löste sich von mir und streckte zitternd ihre Hand aus. Ich nahm den zerknüllten Zettel und faltete ihn auseinander.
Meine wundervolle Familie! Ich kann nicht länger in der Sicherheit eurer Welt bleiben. Es ist Zeit für mich, wieder zu meinem Volk nach Soweto zu gehen und für unsere Freiheit zu kämpfen. Ich weiß, ihr werdet mich verstehen.
Julian
Mein Herz pochte, als wollte es aus meiner Brust springen. »Mutter! Wir werden ihn nie wiedersehen!«, rief ich.
Sie nahm meine Hände in ihre, und Tränen liefen über ihr Gesicht. »Mein Liebes, er ist ein Krieger. Ein Kämpfer. Einer, der sich nicht kleinkriegen lässt.«
»Nein! Er ist ein Künstler!«
Unwillig wollte ich meine Hände befreien, aber Mutter umklammerte meine Finger umso fester.
»Hör zu, Ruby. Seine Tage bei uns waren gezählt. Ich wusste das. Er ist ein Soldat, und bis jetzt war seine Waffe der Pinsel. Ich habe immer an die Macht seiner Bilder geglaubt, aber um eine Veränderung zu erreichen, sind andere Waffen nötig.« Sie ließ meine Hände los. »Wir müssen ihn nun freigeben, damit er tun kann, wonach sich seine Seele sehnt, seit er ein kleiner Junge war.«
»Und was ist das, Mutter?« Mit Tränen in den Augen sah ich sie an.
»Er will seine rote Malkreide gebrauchen. Ob sie nun einen Pinsel malt … oder ein Gewehr.«
»Er ist ANC-Mitglied, Mutter, nicht wahr?
»Ja«, sagte sie zögernd. »Er ist Künstler und Aktivist. Er kann etwas, das nur wenige können.« Ihre Stimme war kaum zu hören. »Er kann den Menschen die Augen öffnen, aber er kann sie ihnen auch schließen.«
»Ich verstehe nicht …?«
»Töten, Ruby.« Nur mühsam brachte sie die Worte über die Lippen. »Er wird es tun, wenn er muss. Für sein Volk.«
Den Rest des Tages saßen Mutter und ich wie angeklebt vor dem Radio. Sie stand nur auf, um ans Telefon in der Küche zu gehen, und jedes Mal wenn es läutete, blickten wir einander hoffnungsvoll an. Julian? Aber wenn sie dann ins Wohnzimmer zurückkam, schüttelte sie nur den Kopf. Auf dem SABC-Sender wurde berichtet, dass in Soweto Polizeiautos und Regierungsbüros in Brand gesetzt worden seien. Es gebe Anzeichen, dass sich die Unruhen am nächsten Tag auf andere Townships ausdehnen würden. Was nicht berichtet wurde – wir erfuhren erst später davon –, war, dass die Sicherheitspolizei in einer großflächig angelegten Aktion hart gegen Mitglieder und Anhänger des ANC vorging und weiße Sympathisanten unter Hausarrest gestellt wurden oder Schlimmeres.
Vater kam erst bei Einbruch der Nacht nach Hause und fand Mutter und mich verloren und unglücklich im Wohnzimmer sitzend, vor uns auf dem Tisch die Tassen mit kalt gewordenem, unberührtem Tee.
»Meine schönen Damen.« Er öffnete die Arme, und wir flüchteten hinein wie zwei Kätzchen, die sich verlaufen hatten.
»Ich hätte gar nichts anderes von Julian erwartet«, sagte Vater mit stoischer Ruhe. »Komm, Annabel, wir haben viel zu tun. Die Truppen sind schnell.« Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu.
»Können wir dich einen Moment allein lassen, mein Schatz?«, fragte Mutter.
Ich nickte.
»Dauert nicht lange.« Vater küsste mich aufs Haar. Ich sah Mutter nach, wie sie mit raschen Schritten hinter ihm herging, dann hörte ich die Tür des Arbeitszimmers hinter ihnen zuschlagen.
Langsam ging ich die Treppe hinauf. Ich legte mich auf mein Bett und versenkte mich in Julians Bild: Der Junge mit der roten Malkreide in der Hand. Wo bist du, Julian? , fragte ich das Bild. Wo bist du? Draußen vor dem Erkerfenster hörte ich den nicht zur Jahreszeit passenden Ruf eines Kuckucks, der die nahende Regenzeit ankündigte. Aber es war Winter, und bevor der Regen käme, würden noch Monate vergehen. Wollte mich der kleine Vogel vielleicht vor etwas warnen? Oder war er einfach nur durcheinander wie
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