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Die Farben der Freundschaft

Titel: Die Farben der Freundschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linzi Glass
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und meine Aufmerksamkeit ganz auf Miss Radcliffes Unterricht zu richten.
    Sie schrieb »Argentinien« an die Tafel. »Argentinien ist das zweitgrößte Land in Südamerika. Weiß jemand, welches das größte ist?«
    Desmond wickelte eine meiner Haarsträhnen so lange um seinen Finger, bis ich das Ziepen bis in die Haarwurzeln spürte.
    »Aua! Hör auf!«, rief ich.
    »Desmond und Ruby! Ich muss dir einen anderen Platz zuweisen, Desmond, wenn ihr beide wieder mit eurem Techtelmechtel beginnt«, zeterte sie.
    »Mit so einer Mechtel läuft kein Techtel«, murmelte er, gerade laut genug, dass die Jungs in seiner Nähe es hörten. Sie lachten laut.
    »Ruby und Desmond!« Miss Radcliffe klopfte mit ihrem Zeigestock auf den Tisch. »Ihr schreibt jeder eine zehnseitige Abhandlung über Argentiniens wichtigste Exportgüter!«
    »Brasilien!«, platzte Desmond da heraus. »Brasilien ist das größte Land in Südamerika.«
    Er schenkte Miss Radcliffe sein entwaffnendes Lächeln.
    »Sehr gut, Desmond«, sagte sie langsam.
    »Das weiß ich, weil ich schon zweimal dort gewesen bin. Muss ich die Abhandlung trotzdem schreiben?«, fragte er schelmisch.
    »Fünf Seiten, weil du die Antwort gewusst hast. Aber zehn für dich, Ruby!« Die Spitze ihres Zeigestocks war wie eine Waffe auf mich gerichtet. Ich sah zur Seite. »Ich spreche mit dir, Miss Winters. Und denk ja nicht, du könntest die Aufgabe ignorieren, nur weil du in ein paar Wochen von unserer Schule abgehst.«
    Allgemeines Gemurmel im Klassenzimmer, ich nickte, ja, ich hatte sehr wohl verstanden, aber ich sah nicht auf.
    »Verräterin«, stichelte Desmond leise. »Aber trotzdem das attraktivste Mädchen der Schule.« Wieder fummelte er an meinen Haaren herum, und ich versuchte, keine Miene zu verziehen.
    »… liegt zwischen Chile und Uruguay …«, tönte Miss Radcliffe jetzt.
    »Monica und ich sind auseinander«, flüsterte Desmond und beugte sich immer weiter zu mir vor. »Sie wollte es nicht machen.«
    Ich versuchte, mich auf meinem Stuhl weiter vorzuschieben, aber er hielt mich an meinem Haar fest.
    »Nicht so hastig.« Desmond lachte leise. »Ich kann mir denken, dass du ganz schön ran musst bei deinem Burenbock.«
    Ich zuckte zusammen.
    »Na klar … musst du doch, oder? Gut so. Soll der Afrikaander ouk dich erst mal zähmen. Er kann gern die Drecksarbeit machen, dann habe ich es umso leichter mit dir.«
    Im Nu war ich auf den Füßen, ich konnte mich nicht länger beherrschen. Ich fuhr herum und schrie Desmond wütend an. »Lieber sterbe ich, als dass ich mich jemals von dir anfassen lasse!«
    Ich kümmerte mich nicht darum, dass Miss Radcliffe energisch mit ihrem spitzen Stock herumfuchtelte und aus Leibeskräften keifte, ich müsse für den Rest meiner Zeit hier an der Schule nachsitzen; und es machte mir auch nichts aus, dass alle in der Klasse mit offenen Mündern dasaßen, als ich diese letzte Explosion zündete und damit endgültig zerstörte, was an der Barnard-Highschool noch von mir übrig geblieben war.
    »Ich bin froh, dass ich abgehe! Ihr seid ja alle so was von aufgeblasen und engstirnig!« Als ich aus dem Klassenraum stürmte, hörte ich hinter mir gerade noch Desmonds Drohung: Falls ich nicht augenblicklich von der Schule verwiesen würde, würde er dafür sorgen, dass sein Vater die Millionenspenden an die Schule einstellte.
    Ich hatte keine Ahnung, wo ich eigentlich hinwollte. Ich wusste nur, dass ich von hier wegmusste. Erst ging ich, dann rannte ich aus dem Schulgebäude. Kalte Luft füllte meine Lungen und ich stürmte über gepflegte Rasenflächen, sprang über eingefasste Gartenbeete und glänzend polierte Sprinkleranlagen. Es war, als hätte man mich von einer Kette gelassen, und zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich an der Barnard-Highschool ganz einfach Ruby Winters sein, die wahre Ruby Winters.
    Als ich am anderen Ende des Schulgeländes um eine Ecke bog, lief ich beinahe in eine umgekippte Schubkarre hinein. Ihr Inhalt lag überall verstreut: Laub, verblühte abgeschnittene Geranien, einzelne Zweige. Was mich aber wie angewurzelt stehen bleiben ließ, war die Gestalt eines Mannes, der am Boden zwischen den Gartenabfällen kauerte. Ich erkannte die schlaffen Seidenblumen auf seinem alten Hut, den blauen ausgeblichenen, mit Erde verschmierten Overall. Er zitterte am ganzen Leib, den Kopf hatte er vornübergebeugt und das Gesicht im Schoß vergraben. Ich ging einen Schritt auf ihn zu und tippte an seine bebende Schulter.
    »Sir? Was ist mit

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