Die Farben der Freundschaft
Ihnen?«
Da er meine Anwesenheit gar nicht zu bemerken schien, kniete ich neben ihm nieder. Er roch nach frisch gemähtem Gras und feuchter Erde.
»Sophia, Sophia, meine Sophia«, schluchzte er.
Ich tätschelte seine Schulter. »Sir …«
Er hob sein schmerzerfülltes faltiges Gesicht und starrte mich an – aber er blickte durch mich hindurch. Vor seinen Augen stand, wie ich gleich erfahren sollte, die Vision eines kleinen Mädchens, das reglos zwischen den Schlaglöchern auf der Straße lag. Das selbst gemalte Schild war ihr aus der Hand gefallen. »Kein Afrikaans in Soweto!« stand in ihrer ordentlichen Mädchenschrift darauf.
»Sophia?«, wiederholte ich. »Sir?«
»Meine einzige Enkelin. Die haben sie umgebracht.« Seine Züge waren schmerzverzerrt. Tränen liefen in die tief eingegrabenen Furchen seines wettergegerbten Gesichts.
»Es tut mir so leid«, sagte ich und wusste gleichzeitig, dass solche Worte nicht eine seiner Tränen aufhalten konnten. »Sie sollten jetzt bei Ihrer Familie sein.«
»Nein.« Er fuhr sich mit dem schmutzigen Ärmel über sein Gesicht. »Kann ich nicht. Ich muss arbeiten, sonst verliere ich meine Arbeit …«
»Man wird doch wohl Verständnis dafür haben?«
Zum ersten Mal sah mich der alte Mann genauer an. Ein Blick des Wiedererkennens ging über sein Gesicht.
»Das Mädchen am Fenster. Das gewunken hat, ja?« Er schniefte.
»Ja.«
»Kein Kind hat mich hier je gegrüßt. Zweiunddreißig Jahre arbeite ich an dieser Schule, und Sie sind die erste Schülerin, die mir zugewunken hat.«
Meine Augen brannten. Ich wusste, wie man sich fühlte, wenn man wochenlang unsichtbar war an der Barnard-Highschool, aber zweiunddreißig Jahre, das schien mir unerträglich.
»Es tut mir leid«, sagte ich noch einmal und wünschte, es gäbe ein Wort im Englischen, das mehr aussagen würde als diese armselige Bemerkung.
»Meine umlilewane , sie ist zehn. Sie war auf der Phefeni-Schule, aber sie wird nie wieder hingehen.« Der alte Gärtner hielt sich den Kopf, schüttelte ihn fassungslos. »Meine Tochter hat hier in der Schule angerufen, da sind sie in den Rosengarten gekommen und haben es mir gesagt. Aber ich kann nicht nach Soweto, um bei meiner Tochter zu sein. Soweto ist jetzt von der Polizei abgeriegelt, und ich muss arbeiten …«
Helle Wut packte mich. Sie stürzte wie ein Felsblock auf mich herab, als ich im Gras neben diesem gebrochenen alten Mann saß, der kein böses Wort und nicht den geringsten Vorwurf gegen diese Welt fand. Es war eine Welt, die ihm ein hartes einsames Leben aufzwang und die ihm ein Enkelkind genommen hatte, das er sehr liebte, und trotzdem war da kein Zorn, nur Trauer und stilles Erdulden.
»Ich möchte Ihnen sagen, Sir, was ihre Enkelin getan hat, das war mutig, selbstlos und sehr wichtig.« Meine Stimme zitterte. »Außerdem sollen Sie wissen, dass mich ihre wunderschönen Gartenanlagen immer froh gemacht haben in all den Jahren auf dieser Schule, besonders, wenn ich einen schlimmen Tag hatte.«
Der alte Mann sah mich aus dunklen todtraurigen Augen an. »Sir«, sagte er langsam. »So hat mich noch nie jemand genannt. Sie rufen mich alle ›Boy‹.« Er verbeugte sich. »Danke, Miss.«
»Ruby«, sagte ich. »Ich heiße Ruby Winters.« Ich streckte ihm meine Hand hin, und er nahm sie scheu in seine. Sie war rau und hart.
»Benjamin Mpatha.« Seine Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. »Ich danke Ihnen, Miss Ruby, dass Sie an so einem traurigen Tag so freundlich sind zu einem alten Mann.«
»Ich wünschte, ich könnte mehr tun«, sagte ich.
»Sie haben genug getan.« Er verbeugte sich noch einmal.
»Vielleicht sehe ich Sie nie wieder, Mr. Mpatha«, sagte ich und stand auf. »Ich werde in Zukunft auf eine andere Schule gehen. Heute ist wahrscheinlich mein letzter Tag hier.« Ich sah zu dem majestätischen Backsteingebäude hinüber, den imposanten Mauern, über die Efeu und Bougainvillea rankten, ich sah den leeren gepflegten Schulhof und die beeindruckenden Tore, die den Eingang zu unserer geschützten, wohlhabenden Welt markierten.
Der alte Mann rappelte sich schwerfällig vom Boden auf und wischte über seinen schmutzigen Overall. »Ich werde Sie nicht vergessen, Miss Ruby. Das Mädchen, das aus dem Fenster gewunken hat.« Er ging einen Schritt auf mich zu.
»Ich werde Sie auch nicht vergessen.«
Ich beugte mich vor und küsste ihn rasch auf seine feuchte Wange.
Er gab mir einen freundlichen Klaps auf den Arm, und wieder traten ihm Tränen in
Weitere Kostenlose Bücher