Die Farben der Freundschaft
aus überdimensionalen Lastern stiegen bewaffnete Männer mit knurrenden Hunden – die Truppen der Sondereinheit, die speziell beim Ausbruch von Unruhen eingesetzt wurden.
Ich kam gut voran mit meiner Englischarbeit, meine Hand flog nur so über die Seite: »Das Buch, das sich mit den Folgen einer unerklärlichen Tragödie befasst – eine kleine Fußgängerbrücke in Peru bricht und reißt fünf Menschen in den Tod –, lässt uns die Frage stellen, ob diese unschuldigen Menschen sterben mussten oder ob sie zufällig in den Tod gingen. Warum diese fünf? Konnte es nicht ebenso gut andere treffen?«
Später wurde berichtet, dass eine Frau mit einem Baby, das sie in einer weichen Sotho-Decke auf dem Rücken trug, einen der Polizisten mit angelegtem Gewehr gefragt hatte: »Wollt ihr denn unsere Kinder umbringen?« Er verneinte. Geschossen werde nicht. Kaum waren die Worte über seine Lippen, schleuderte einer seiner Kollegen Tränengas in die Menge der Schüler, die sich daraufhin mit Steinwürfen rächten. Nun fielen Schüsse, ein ums andere Mal wurde zwischen die unbewaffneten Jugendlichen gefeuert. Peng! Peng! Peng! Warum diese zwei? Warum diese fünf? Warum diese vierzehn?
Ich war zufrieden mit meiner Englischarbeit. Ich hatte das Gefühl, meine Argumente und Überlegungen zum zweiten Punkt des Themas, nämlich der Frage nach dem göttlichen Eingreifen, waren überzeugend. Ich hatte geschrieben: »Sind wir für die Götter vielleicht nur wie die Fliegen, die an einem Sommertag von Jungen achtlos getötet werden? Oder ist es Gottes Hand, die behutsam jede Feder abgestreift hat, die sich aus dem Gefieder eines noch so kleinen Vogels löst?«
Schreiende Kinder versuchten wegzulaufen. Es herrschte Chaos, man hörte Hilferufe, weitere Schüsse in die Menge. Die siebzehnjährige Antoinette Pieterson suchte vergeblich nach ihrem kleinen Bruder Hector. Sie sah eine Gruppe Jugendlicher um einen kleinen Jungen herumstehen, der blutend am Boden lag. Später erfuhr ich zusammen mit der übrigen Welt, dass Hector das erste Kind war, das von der Polizei niedergeschossen wurde. Zwölf Jahre alt und in der sechsten Klasse. Die siebte würde er nie erleben. Ein Bild, das durch alle Zeitungen ging. Es ist unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt. Hector auf den Armen eines schlaksigen Jungen in zerrissenem Overall, seine Schwester Antoinette, blankes Entsetzen im Gesicht, rennt neben dem leblosen Körper her, während sie vergeblich zur Klinik laufen. Später gab es noch mehr Bilder … Kinder, die verwundete Kinder aus der Tränengaswolke tragen. Rauch, dann Feuer, als die aufgebrachte Menge Autos, Häuser, Geschäfte in Brand steckte. »Reißt Soweto nieder! Nieder mit dem Symbol unserer Unterdrückung!«
Kurz vor Ende der letzten Unterrichtsstunde wurde über die Sprechanlage eine Bekanntmachung durchgegeben. Direktor Dandridge sprach.
»An alle Schüler! Im Radio wird berichtet, dass aufrührerische Schwarze in Soweto Unruhen ausgelöst haben. Für euch besteht kein Grund zur Sorge. Ihr seid in keiner Weise betroffen. Die Township ist kilometerweit von hier entfernt, trotzdem fordern wir euch vorsichtshalber auf, euch mit einem Freund oder einer Freundin auf den Heimweg zu machen und nicht allein zu gehen. Danke.«
Einen Augenblick später, als die Schulglocke zum letzten Mal an diesem Tag läutete, stand ich mit dem Rest der Klasse auf.
Nicht betroffen. Nicht betroffen, dröhnte es in meinem Kopf. Das gibt Blutvergießen . Vaters Worte hallten in mir nach, während ich meine Schultasche ergriff und wie ferngesteuert auf den Gang hinaustrat.
»Ein Haufen Eingeborener macht Ärger«, hörte ich hinter mir.
»Werft ihnen ein paar Bananen hin. Dann werden sie schon Ruhe geben!«, witzelte ein anderer, und alle lachten.
Ich drängte mich durch die Menge, zwang meine bleischweren Füße, schneller und schneller zu gehen, aus dem Gebäude zu rennen. Nur ein einziges Wort pochte in meinem Hirn, trieb mich in rasender Eile durch das Schultor und den ersten Hügel hinauf. Schneller. Schneller. Schneller! Ein Mensch, ein Gedanke, eine Hoffnung.
Augen, tief wie Brunnen, Arme, die Kraft und Trost gaben, Hände, die Magisches schufen.
Julian!
25
ICH lief die Treppe hinauf zu Julians Zimmer und riss die Tür auf. Vielleicht schlief er ja noch und wusste nichts von den Unruhen. Doch auf seinem Bett lag nur ein Haufen zerknüllter Laken. Ich machte kehrt und hoffte, ich würde ihn im Atelier antreffen,
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