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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Haltung – Finchs Kassette hatte es deutlich erklärt. Butler arbeiteten nicht als Kutscher. Ich betrachtete Baine. Er war jünger, als ich erwartet hatte, auch größer, und wirkte etwas abgehärmt, gerade als bekäme er nicht genug Schlaf. Ich konnte das nachempfinden. Ich fühlte mich, als ob ich Jahrhunderte nicht geschlafen hätte.
    Finchs Kassetten hatten gesagt, daß Butler ein Pokergesicht haben sollten, aber auf diesen hier traf das nicht zu. Er sah entschieden aus, als machte er sich über etwas Sorgen. Ich fragte mich, über was wohl. Den Ausflug oder die Aussicht, für jemanden arbeiten zu müssen, der dachte, Heinrich der Achte hätte acht Frauen gehabt? Ich versuchte, einen Blick auf das Buch zu werfen, als wir vorbeigingen. Es war Die französische Revolution von Carlyle.
    »Ich mag unseren Butler nicht«, sagte Tossie, als wäre der Mann gar nicht vorhanden. »Er ist immer so barsch.«
    Offenbar mochte Cousine Verity ihn ebensowenig. Sie schaute stracks geradeaus, als wir vorbeigingen. Ich nickte dem Butler zu und tippte an meinen Hut. Er nahm das Buch wieder zur Hand, um weiterzulesen.
    »Unser früherer Butler war viel netter. Lady Hall warb ihn ab, als sie uns einmal besuchte. Während sie unter unserem Dach weilte – man stelle sich das mal vor! Papa meint, man solle Dienstboten verbieten, Bücher zu lesen. Das würde ihre Moral untergraben. Und ihnen Flausen in den Kopf setzen.«
    Terence öffnete das Tor zum Kirchhof, an dem ein Schild hing: »Bitte beim Verlassen Tor schließen!« und Tossie und er gingen weiter zum Kirchenportal. Es war mit Schildern übersät – »Keine Besichtigungen nach vier Uhr!«, »Keine Besichtigungen während der Gottesdienste!«, »Fotografieren nicht erlaubt!«, »Für Auskünfte wenden Sie sich an Mr. Egglesworth, Kirchenvorsteher, Harwood House. Nur in Notfällen stören!«
    »Ist sie nicht entzückend?« meinte Tossie. »Schauen Sie doch – diese süßen geschnitzten Zickzacke über der Tür.«
    Ich identifizierte sie auch ohne Kassetten als Zahnornamente aus dem zwölften Jahrhundert, ein Resultat meines monatelangen Aufenthaltes in Lady Schrapnells Kathedrale. »Normannische Architektur«, sagte ich.
    »Ich liiiebe diese alten Kirchen, Sie nicht auch?« fuhr Tossie, mich vollkommen ignorierend, fort. »Sie sind um so vieles schlichter als unsere modernen.«
    Terence öffnete das schlichte, mit Hinweisschildern übersäte Portal. Tossie schloß ihren Schirm und trat ein, von Terence gefolgt. Ich erwartete, daß Cousine Verity sofort folgen würde. Finchs Kassetten hatten gesagt, daß junge victorianische Mädchen nie ohne Anstandsdamen sein durften, und ich nahm an, Cousine Verity war, Erscheinung oder nicht, eine solche Anstandsdame. Unten am Ufer hatte sie tadelnd genug geblickt, und die Kirche war bestimmt nur schwach beleuchtet und äußerst einladend zum Plänkeln.
    Und das Schild am Portal sagte eindeutig, daß der Kirchenvorsteher nicht anwesend war.
    Miss Brown jedoch schaute nicht einmal auf das halbgeöffnete Portal oder die schattige Dunkelheit im Innenraum der Kirche. Sie öffnete das schmiedeeiserne Tor, das mit dem Schild »Nicht auf den Boden spucken!« verziert war, und betrat den Friedhof.
    Langsam schritt sie zwischen den Gräben hindurch, an mehreren Schildern vorbei, die uns anwiesen, weder Blumen zu pflücken noch uns gegen die Grabsteine zu lehnen, bis sie einen schiefstehenden Obelisken erreichte, gegen den sich offenkundig doch jemand gelehnt hatte.
    Ich überlegte, was man am besten zu einer jungen victorianischen Dame sagte, wenn man mit ihr allein war. Finchs Kassetten hatten keine Hinweise auf Gesprächsthemen enthalten, die für einen jungen Mann und eine junge Dame, die sich gerade kennengelernt hatten, schicklich gewesen wären.
    Politik auf keinen Fall, da ich keine Ahnung hatte, wie es um diese im Jahr 1888 stand, außerdem erwartete man von jungen Damen nicht, daß sie sich ihre hübschen Köpfchen über Staatsangelegenheiten zerbrachen. Religion ebenso wenig, weil Darwin immer noch heftig kontrovers diskutiert wurde. Ich versuchte mich zu erinnern, was die Personen in den victorianischen Theaterstücken zueinander gesagt hatten, die ich gesehen hatte, wie zum Beispiel Oscar Wildes Figuren in Der vortreffliche Chrichton oder Bunbury oder wie wichtig es ist, ernst zu sein. Standesfragen und witzige Epigramme. Ein Butler mit Flausen im Kopf war in diesen Stücken nicht vorgekommen, und witzige Epigramme fielen mir nicht ein.

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