1033 - Schlangenfluch
Die Nacht war günstig. Vor allen Dingen deshalb, weil der Herbst seine ersten Fühler ausstreckte. Die Luft war nicht mehr so warm. Es wurde früher dunkel, und gegen Abend kam zumeist die erste Kühle auf, verbunden mit sanften Dunstschleiern, ein typisches Wetter für den Monat September. Die Menschen atmeten wieder auf, saßen nicht mehr in den Gärten, um die warmen Nächte zu genießen. Zudem war England wie gelähmt und in Apathie gefallen. Der Tod der sympathischen Prinzessin Lady Diana hatte die Menschen bis ins Mark getroffen und geschockt.
Joe ließ das kalt. Er konnte sich bei seinem Job keine Gefühle und Ablenkungen leisten. Er mußte ihn durchziehen, denn er lebte von seinen Brüchen.
Mit dem Wagen war er bis in die Nähe des Hauses gefahren. Allerdings nicht so nahe heran, daß er durch einen Zufall hätte entdeckt werden können. Er hatte den Opel Corsa an einer günstigen Stelle und vor allen Dingen gut versteckt abgestellt und war den letzten Rest des Wegs zu Fuß gelaufen.
Die Stofftasche mit seinem Werkzeug hatte er über seine Schulter gehängt. Alle Metallteile waren mit weichen Lappen umwickelt worden, damit sie beim Gehen nicht gegeneinander schlugen und keine verräterischen Geräusche verursachten.
Zum Haus gehörte ein Garten. Ob das Gebäude auf einem künstlich angelegten oder auf einem natürlichen Hügel stand, war ihm egal. Jedenfalls war es etwas erhöht gebaut worden. Joe duckte sich sicherheitshalber, als er sich dem Vorgarten näherte. Die kleine Mauer war mehr zur Zierde da. Er überwand sie mit einem lockeren Sprung.
Hinter keinem der Fenster brannte Licht. Auch die typische Beleuchtung eines eingeschalteten Fernsehers fehlte. Die Nacht hatte sich wie dunkle Watte um den Bau gelegt. Auch der Himmel wies kaum freie Stellen auf. Dichte Wolken bildeten eine Decke, die nicht einmal das Mondlicht durchließ.
Veccio duckte sich hinter Rosensträuchern. Die Blumen dufteten noch stark, doch auch ihr Geruch wies schon auf die herbstliche Vergänglichkeit der Natur hin.
Joe gehörte zu den kleinen Menschen. Allerdings war er sehr agil und schnell. Wendig, wenn es darauf ankam. Zwei Jahre seines Lebens hatte er als Artist in einem Zirkus verbracht, und dieses Training kam ihm bei seinem neuen »Beruf« zugute.
Früher hatte er die schwarzen Haare lang getragen. Seit einigen Wochen hatte er sie abschneiden lassen. So kurz, daß es aussah, als würde auf seinem Kopf nur ein Schatten liegen.
Sein Gesicht war flach. Eine etwas dicke, aber kaum vorstehende Nase. Breite Lippen, abfallendes Kinn, hohe Stirn. Seine dunklen Augen waren auf das Haus fixiert. Veccio genoß die Stille, aber er horchte gleichzeitig in sie hinein. Die nächtliche Stille war ihm sehr wohl bekannt. Er empfand sie zudem überall verschieden mochte es nun im Wald sein, im Feld oder wie hier, wenn er in einem Vorgarten saß und lauerte.
Es war wirklich nichts Verdächtiges zu hören. Abgesehen vom Zirpen der Grillen. Auch sie hielten sich mit ihrer leicht schrillen Musik zurück.
Alles in Ordnung also?
Joe wußte darauf keine Antwort. Er leckte über seine Lippen. Das tat er immer, wenn er von einer gewissen Nervosität befallen war.
Einen äußeren Grund gab es nicht. Joe mußte sich hier einfach auf sein feeling verlassen, und das war nicht eben günstig, wie er sich selbst gegenüber zugestand.
Er suchte nach einem Ausdruck, um das zu beschreiben, was er empfand. Dabei fiel ihm das Wort »trügerisch« ein. Genau das traf zu.
Die trügerische Ruhe mochte er nicht. Dennoch wollte er keinen Rückzieher machen. Der Weg war einfach zu weit gewesen, und direkt gegen sein Gefühl handelte er auch nicht. Es blieb nur ein gewisses Unbehagen zurück. Damit konnte Joe leben.
Veccio verließ seine Deckung. Die Taschenlampe ließ er unberührt. Er suchte die Umgebung mit den Augen ab, und für gewisse Dinge hatte er schon einen Blick.
Er war geeicht auf Kameras. Er wußte, wo in der Regel die Überwachungsaugen angebracht waren. Zumeist direkt mit dem Haus verbunden und in einem bestimmten Winkel in den Garten oder die Umgebung hinein schauend.
An diesem Haus sah er nichts dergleichen. Keine Kamera, keine Lampen, aber es gab auch raffiniertere Alarmanlagen, die mit den Schlössern und Fenstern verbunden waren. Ob es hier auch der Fall war, konnte er nicht sagen. Da mußte er den Eingang und die Fenster näher in Augenschein nehmen.
Stolperfallen sah er nicht. Sie wären auch zu primitiv gewesen, obwohl er diese
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