Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
ausspuckend, hob Alvise den Arm. »Gut, mein Junge!« Er betrachtete die Ruderer an den Heckbänken. In triefendnassen Kleidern, die ihnen am Körper klebten, hielten sie die Riemen knapp über dem Wasser, bereit für seine Befehle. Sie waren tüchtig gewesen, die Galeerensträflinge ebenso wie die Freiwilligen. Wieder blickte er zu Lunardo: Der hielt die Ruderstange auf Brusthöhe und manövrierte sie mit leichten Kursänderungen nach rechts und links durch sein Körpergewicht. Lunardo führte das Schiff, endlich war es nicht mehr das Schiff, das ihn führte. Früher oder später musste es geschehen.
»Vater, seht, dort hinten, da ist das Wasser besser!«, schrie er, auf einen Punkt links vom Bug zeigend. Unter Schmerzen klammerte Alvise sich an einem Mast fest und zog sich hoch. Hinter der Festung San Pietro hatte das Meer wieder ein vertrautes Aussehen.
»Ja, genau dorthin müssen wir fahren«, rief Alvise ihm zu. »Das Schiff gehört dir. Du manövrierst, ich helfe den Männern an den Ankern.«
»Ruderer am Bug und mittschiffs bereitmachen, um in Luv auszugleichen!«, befahl Lunardo darauf. »Ruderer am Heck die Ruder heben! Sechs Matrosen an das Focksegel! Alle anderen mittschiffs, bereit zum Gegensteuern! Und lasst uns die Banner hissen!«
Alvise ballte die Faust und reckte sie in die Luft. »Bravo, Lunardo!«, hätte er gerne gerufen, aber er begnügte sich damit, es vor sich hin zu murmeln, während um ihn herum ein hektisches Treiben der Männer einsetzte, die an die Ruderbänke und die Manövrierplätze liefen. Die Schoten begannen zu ächzen, während die Santa Chiara nach links scherte, dem Bogen folgend, der sie an die Spitze von Pellestrina brachte. Die Galeere nahmFahrt auf, und die Banner von San Marco, die sich unter den Böen entfalteten, stiegen zu den Rahen am Großmast und Besanmast auf, wo sie zu killen begannen.
57
Das Wasser war gestiegen. Mehmet Hasan hatte das Öllämpchen auf das Brett an der Wand gestellt, nun bückte er sich, bis zu den Oberschenkeln im Wasser stehend, ein Bündel mit seinen wenigen Habseligkeiten über der Schulter, und rief durch das Guckloch in der Tür um Hilfe. Sein Atem kondensierte zu weißen Wölkchen.
» Yardım edin ! Yardım edin !«, schrie er in seiner Sprache.
Der Ausgang war drei Fuß hoch, und wenn der Wasserpegel noch einen Fuß höher stieg, würde auch dieser winzige Spalt zur Außenwelt verschwinden und niemand ihn mehr hören. Vorausgesetzt, es gab dort draußen überhaupt jemanden, der ein Ohr für seine Schreie hatte. Auf dem Tümpel, in den sich die Zelle verwandelt hatte, schwammen die Strohmatratze, der Eimer und ein paar Holzstücke, die für unzählige Kakerlaken zum rettenden Floß geworden waren. Andere, und das war die Mehrzahl, kamen weiter aus den Spalten zwischen den Brettern der Holztäfelung und kletterten die Wand hoch.
» Allahım bana yardım et! «
Wenn man viele Tage lang in einer acht mal vier Fuß großen Zelle unter einer Treppe in völliger Isolation eingesperrt sitzt, können einem verrückte Ideen durch den Kopf gehen. Die Idee, die den türkischen Teppichhändler nun schon seit Stunden quälte, war ihm gekommen, als das Wasser in der Zelle stieg, und hatte sich zu einer Folter ausgewachsen. Denn über Mehmets Kopf, in einer Höhe von etwa sechs Fuß, hatte jemand auf das vorletzte Brett der Täfelung unterhalb der Decke das Wort »Hochwasser« geschrieben, eine Kerbe gemacht und dasDatum verzeichnet, 9. März 1543. Und weiter unten, auf der Höhe seiner Augen, gab es ein weiteres Zeichen, gewellt wie die Oberfläche des Meeres, ebenfalls begleitet von einem Datum, 7. Dezember 1564. Senkte man den Blick, gelangte man zum jetzigen Pegel, der nach dieser Liste also bisher die drittschwerste Überschwemmung seit 1540 war, dem Jahr der Erbauung der unteren Pozzi. Mehmets Überlegung war plausibel: In Anbetracht der Geschwindigkeit, mit der das Wasser stieg, würde er, wenn in der nächsten Stunde nicht jemand kam, um ihn herauszuholen, wie eine Ratte in einem gekenterten Schiff enden.
» Yardım edin! Yardım edin! «, schrie er lauter. » Allahım bana yardım et !«
Tozzetto, ein junger Wärter, der auf der zehnten Stufe der Treppe zu den Pozzi saß und die Hilfeschreie hörte, brach in ein krampfhaftes Gelächter aus, das ihn zwang, einen Bissen ausgezeichneten Stockfischs auszuspucken und sich eine Hand vor den Mund zu halten, um das Lachen zu unterdrücken.
»Hör mal, wie er betet, das Schwein!«,
Weitere Kostenlose Bücher