Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
sie beobachtete. Sofia hob die Arme, versuchte zu schreien. Nur ein leise geröcheltes »Hilfe« kam heraus. Maria rührte sich nicht. Sofia versank.
Manchmal können einfache Gesten, wie sich bücken, sich umdrehen, einen Schritt tun oder den Kopf senken, das eigene und das Leben anderer verändern. Das war es, was Andrea an diesem stürmischen Spätnachmittag geschah. Auf der Mitte des Ponte San Lorenzo angekommen, drehte er sich mit sorgenschwerem Herzen zu dem Hund um, der fortwährend bellte. Es war nur ein Augenblick, aber er genügte: Zwischen den Wellen sah er eine Hand mit gespreizten Fingern, die sich zu einer Faust schlossen und dann wieder vom Wasser eingesogen wurden.
»Dort unten!«, schrie er, und Francesco, der die Brücke zum Campo San Lorenzo schon überschritten hatte, hielt sich an der steinernen Brüstung fest und drehte sich um.
»Wo?«
Andrea gab keine Antwort, er hatte seinen Mantel abgeworfen, die Stiefel und den Kittel abgestreift, sich das Hemd vom Leib gerissen. Nur noch mit der Hose bekleidet, schwang er sich über die Eisenstange, die an dieser Stelle die Brüstung aus Stein ersetzte, und sprang ins Wasser, wo er zwischen hölzernen Latten, einem Weidenkorb und vielen Orangen, die auf dem Wasser trieben, verschwand.
Mit angehaltenem Atem blieb Francesco wie gelähmt stehen und wartete darauf, dass Andrea wieder auftauchte. Schon wollte er sich ebenfalls entkleiden und ins Wasser stürzen, da schoss Andrea mit angespannten Muskeln fast bis zur Taille aus dem Wasser empor.
»Hast du sie gesehen?«, schrie er.
Der Solecitadòr schwieg, er vermochte nicht zu antworten. Andrea hieb mit der Faust auf das Wasser, atmete zwei-, dreimal tief ein, hob die Arme, eine Drehung des Rückens, und das Wasser schloss sich wieder über ihm.
Von dem Augenblick an, als Sofia aufhörte zu kämpfen, verspürte sie keinen Schmerz mehr. Eine warme Flüssigkeit strömte aus ihrer Brust, und sie empfand keine Kälte mehr, konnte aber Berührungen noch wahrnehmen, denn sie spürte, dass ihr Rücken auf einer weichen Matratze lag. Der mit grünem Damast an den Wänden verkleidete Raum lag im Halbdunkel. Sie war müde. Ein Händler suchte die schönsten Spitzen aus, die sie geklöppelt hatte. Ein Matrose lächelte sie an und faltete das Großoberbramsegel auf, an dem sie einen Streifen geflickt hatte. Sie war glücklich über ihr gutes Tagwerk. Endlich konnte sie schlafen. Sie nahm die Hand ihres Sohnes Tonino, lächelte ihm zu und schloss die Augen. Dann war da nur noch Dunkelheit.
Während Andrea dicht über den morastigen Grund des Kanals schwamm, gingen ihm die Luft und die Hoffnung aus. Die Sichtweite betrug dort unten zu dieser Abendstunde und bei diesem Wetter höchstens eine halbe Elle, und Steine, Schutt, das halbe Gerippe eines Bootes tauchten urplötzlich auf wie Tiere aus einem dichten Nebel. Er schätzte, dass er jetzt ungefähr an der Stelle sein musste, wo die Hand aus dem Wasser geragt hatte. Er sah einen Schädel, vielleicht von einem Kaninchen oder einer Katze, der auf dem Grund in dieselbe Richtung rollte, in die er schwamm. Die Strömung war günstig, sie kam von Süden, also machte er noch zwei Schwimmstöße.
Von links spürte er den kälteren Strom, der aus dem Rio della Tetta kam. Er hatte kaum noch Luft und wollte gerade auftauchen, als er Sofia sah, die rücklings am Grund lag. Ihre Arme schwebten träge nach oben wie Schlingpflanzen. Rasch umfasste er sie und stemmte die Füße in den schlammigen Grund, doch seine Beine sanken fast bis zu den Knien ein, bevor er Halt fand und sich abstoßen konnte. Sofias weichen, leichten Körper fest umklammernd, stieg er strampelnd nach oben. Es dauerte ewig. Seine Lungen drohten zu platzen. Als er den Kopf aus dem Wasser steckte, schrie er mit letzter Kraft nach seinem Gehilfen.
»Avvocato, Avvocato, hier bin ich!« Francesco war bis an das äußerste Ende der Ufermauer gekommen, hatte sich an ein Fenster der Locanda geklammert und versuchte nun, am Fenstergitter hangelnd, sich zu nähern. Doch in dieser Lage war er keine Hilfe.
»Nicht so!«, schrie Andrea. »Sag Lorenzo, er soll das Bootshaus öffnen! Ich versuche, dorthin zu kommen!«
Er blickte sich um: Eine schlechtere Position hätte er nicht finden können. Genau im Zusammenfluss vom Rio della Tetta mit dem Rio San Lorenzo, gegen die Strömung und den Wind anschwimmend, versuchte er, Sofias Kopf über Wasser zu halten. Kein einziges Boot in Sicht, kein Stück Holz, an dem er sich
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