Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
festhalten konnte. Andrea fühlte, dass ihm die Sinne schwanden. Sofia sank wieder unter Wasser. Er tauchte und ergriff sie. Erst in diesem Moment kam ihm der Gedanke, sie könnte tot sein.
Er hörte Francescos Stimme, der ihn aufforderte, durchzuhalten. Dann hörte er Lorenzo und die Stimmen vieler anderer Menschen. Der Hund bellte und heulte. Als er den Kopf wandte, erblickte er seinen Assistenten mit nacktem Oberkörper, der sich von der Tür zum Rio ins Wasser gleiten ließ.
Eine Welle, nicht hoch, aber vom Schirokko getrieben, traf Andrea, als er gerade Luft holen wollte, und erstickte ihn. Er begann zu husten. Er musste Sofia loslassen oder mit ihr untergehen. Er versuchte sie festzuhalten und nach oben zu drücken, doch sie sank immer wieder in die Tiefe. Schon wollte er aufgeben, da spürte er plötzlich, dass ihr Körper leichter wurde. Eine Hand ergriff sie und zog sie nach oben. Dann war auch er an der Oberfläche. Francesco hatte Sofia gepackt, und ein anderer Mann, in dem Andrea sofort einen der jungen Arbeiter aus der Osteria erkannte, hielt Francesco fest. Beide hatten einen Strick um den Bauch und wurden jetzt vom Bootshaus der Locanda aus von kräftigen Armen zurückgezogen.
56
Der Tag, der keine Sonne gesehen hatte, dunkelte. An Deck der vom Regen gepeitschten und von den Tritten des Meeres gepeinigten Santa Chiara Capitana stand Alvise Loredan, das Gesicht in eine Maske aus Salz verwandelt. Mit dem Sturm von achtern hatte der Kapitän die Galeere weniger als eine halbe Meile vor die Küste von San Pietro in Volta manövriert. Nur wenige Seemeilen trennten sie noch von der Porta di Malamocco, und doch war jetzt der schwierigste Teil der Fahrt gekommen, denn vor dem Bug der Santa Chiara erstreckte sich, in einen Lärm gehüllt, der eher an das Rollen großer Steine als an Wasser gemahnte, kein stürmisches Meer, sondern eine zerklüftete Ebene aus weißlichem Schaum mit Wellen, die jede Symmetrie und Richtung verloren hatten. Ein einziges Chaos, entstanden aus Untiefen, in dem das Meer seine Kraft sowohl horizontal als auch vertikal entlud und mit seiner Gewalt Dämme einreißen, Häfen und Werften zerstören, ja, die Beschaffenheit ganzer Landstriche verändern konnte.
Alvise betete zu Gott, doch all seine Sinne waren darauf gerichtet, in dieser Wildnis aus Wasser einen Pfad zu entdecken, auf den er den Bug lenken konnte, damit das Schiff darüberglitt, denn es gab kein Zurück mehr. Er musterte das einzige gehisste Segel, die Masten und den kostbaren Windrichtungsanzeiger, einen an den Wanten befestigten Wimpel aus Seide, der letzte von vielen, die der Sturm zerfetzt hatte. Alvise schauderte, und einen Moment lang beneidete er die Matrosen, die sich im Kielraum versammelt hatten, und die unter den Bänken kauernden Ruderer, die zwar Todesangst litten, aber auf ihn und Gottes Schutz vertrauten. Nein, er durfte der Angst nicht nachgeben, dann würde Panik an Bord ausbrechen. Einsamkeit, das Wesen des Kommandos, war das Schicksal der Kapitäne, und noch die kleinste ihrer Unsicherheiten ließ Freunde erschrecken und Feinde spotten.
Plötzlich hörte Alvise ein dumpfes Dröhnen hinter sich. Weniger als eine Zehntelmeile hinter dem Heck hatte sich eine silbrige Hochebene aufgetürmt, die in das Dunkelgrau des Himmels ragte und sich zu beiden Seiten ausdehnte. Es war eine Welle von gigantischen Ausmaßen, die sich über die anderen gelegt hatte und in einer Breite von einer halben Meile auf das Schiff zurollte, als wollte sie das ganze Meer verschlingen. Sie kam näher, doch die Santa Chiara war schnell genug, so dass sie schon im nächsten Augenblick einen Vorsprung zu gewinnen schien.
»Ruderer ans Heck, sofort!«, schrie Alvise, und die Ruderer bewegten sich sogleich wie ein Mann, setzten sich auf die Bänke und ergriffen gleichzeitig die Holme. Lunardo sprang aus der Luke.
»Schnell, mein Sohn! Klammere dich an die Ruderpinne wie an den Stamm einer Eiche!«
Der junge Mann eilte an die Seite seines Vaters und packte die Pinne mit beiden Händen. Als er das Dröhnen hinter sich hörte, wollte er sich umdrehen.
»Nein!«, befahl Alvise scharf. »Sieh nach vorn! Dich umzuschauen nützt dir gar nichts, du verlierst nur das Gleichgewicht und den Kurs!«
»Was muss ich tun?«, fragte Lunardo. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu.
»Halte Chiara gerade auf den Wellen!« Er setzte zu ermutigenden Worten an, da fiel ihm die Botschaft ein, die Passi ihm anvertraut hatte. »Ist das Sendschreiben, das
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