Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
äußersten Südzipfel der Insel ausdehnten. Diese Aufteilung war vor vier Jahrhunderten zusammen mit der Insel entstanden, als die Barena von den Mönchen des Benediktinerordens urbar gemacht und befestigt worden war.
Als Sofia an diesem Morgen die Augen öffnete, fand sie sich in einer Welt, die sie nicht wiedererkannte. Zuerst erblickte sie die Decke, doch die Höhe des weiß verputzten Gewölbes konnte sie nicht bestimmen. Dann hob sie ein wenig den Kopf und sah, als sie umherblickte, die leeren Betten und drei große, hohe Fenster mit starken Gittern davor. Sie wähnte sich im Schlafsaal des Hospizes für arme Frauen in der Ca’ di Dio, das zwei Schritt von ihrem Haus entfernt an der Riva degli Schiavoni lag. Sie horchteauf ein Geräusch, irgendeines, von diesem immer sehr belebten Ufer, doch es herrschte völlige Stille. Hinter einem Fenster sah sie eine Baumkrone und überlegte, ob es Bäume in der Ca’ di Dio gab. Nein, meinte sie sich zu erinnern, dort gab es höchstens Schiffsmasten. Dann fiel ihr ein, dass das Hospiz geschlossen war, weil es umgebaut wurde. Sie versuchte einen Arm zu heben, und ein Schauder durchfuhr sie: Ihr Arm gehorchte nicht, oder besser, er wurde von etwas festgehalten. Dasselbe geschah mit dem anderen Arm. Sie trat mit den Füßen. Doch auch ihre Beine wurden an den Knöcheln festgehalten. Sie versuchte, den Kopf so weit wie möglich zu heben, doch die Decken hinderten sie daran, zu erkennen, was sie fesselte. Wahrscheinlich waren es Stricke, denn sie fühlten sich rau an. Dann erinnerte sie sich an die Gesichter der Frauen in der Nacht, die Ankunft auf der Insel, den Dominikaner Schellino, die Inquisition.
Sie sah, dass ihr Bett nicht in einer Reihe mit den anderen stand, sondern an der gegenüberliegenden Wand. Ein schwerer Gegenstand drückte ihr auf die Brust. Sie hob den Kopf, bewegte den Oberkörper und sah, dass dieser Gegenstand ein Kruzifix war. Panik überkam sie, sie begann zu schreien und sich zu winden. Doch die Fesseln ihrer Hand- und Fußgelenke waren fest und schnitten ins Fleisch.
Die Äbtissin erschien auf der Schwelle des Schlafsaals und blieb dort stehen. Einen Augenblick später war sie von Nonnen umringt. Alle kamen gleichzeitig auf Sofia zu. Sofia bemerkte sie erst, als sie an ihrem Bett waren. Sie hörte auf zu schreien und starrte keuchend und verstört die Frauen an, die sich in einem Grüppchen ans Fußende des Bettes stellten.
»Heilige Mütter!«, sagte sie, »ich flehe Euch an, helft mir!«
Die Äbtissin löste sich aus der Gruppe und stellte sich neben Sofia, auf dem Gesicht ein sanftes, liebenswürdiges Lächeln. Dann nahm sie ihr das Kruzifix von der Brust, küsste es und zeigte es ihr.
»Erkennst du deinen Gott?«, fragte sie strahlend.
Sofia sah sie verwundert an.
»Mutter, bitte befreit mich! Ich flehe Euch an!«, sagte sie, während ihre Augen sich mit Tränen füllten.
»Wenn ich es täte, würde ich dir übel wollen, meine Tochter.«
»Im Namen der Jungfrau Maria, habt Erbarmen mit mir!«
Die Äbtissin lächelte wieder zärtlich und streichelte sie.
»Wenn Gott es von mir fordern würde, gäbe ich mein Leben für dich, aber ich kann die Stricke nicht lösen, ehe deine Seele nicht ganz rein ist.« Nach diesen Worten trat sie drei Schritte zurück und gesellte sich wieder zu ihren Schwestern.
Da fing Sofia an, keuchend zu atmen, zu zappeln und zu schreien. Und je lauter ihre Schreie wurden, desto lauter wurde das Gebet und füllte den ganzen Raum.
76
Dies war das erste Mal, dass Francesco d’Angelo sich verspätete. Andrea wartete in der Sala della Bussola auf ihn, und der Raum quoll schon über vor Menschen, die sich anschickten, durch die Türen in die Gerichtssäle zu gehen. Anwälte und zum Verhör Vorgeladene warteten dort zusammen mit Richtern und Zeugen. Auch einige Frauen waren dabei. Ein Mann, dem eine Kiste über der Schulter hing, verkaufte Wasser und Veilchenpastillen gegen üblen Atem.
Andrea hatte die Locanda della Torre an diesem Morgen zeitig verlassen. Die Gedanken wirbelten ihm durch den Kopf wie Papierkreisel im Wind und vermischten sich dabei, bis jeder einzelne Gedanke unkenntlich wurde. Erst langsam gelang es Andrea, sie wieder voneinander zu trennen und zu klären.
Er beschloss, so bald wie möglich zu Sofia in die Bragola zu gehen, und wenn er sie dort nicht finden würde, an ihren Arbeitsplatz im Arsenale. Er musste sie zur Vernunft bringen und überzeugen, dass es unerlässlich war, dem Avogador Venier
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