Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
sie nach gesellschaftlichem Stand, Verletzung und Schwere der Verwundung zu verteilen, wie die Vorschrift verlangte. Jemand sagte ihm, sie seien alle Überlebende einer großen Schlacht gegen den Türken, und angesichts der vielen Verletzten dachte Taso sofort an eine tragische Niederlage der Venezianer. Dann hörte er, dass sie gewonnen hatten und dass die türkische Flotte nicht mehr existierte.
»Ja, wir haben gewonnen«, sagte Andrea, und als er ihn so verstört sah, fügte er hinzu: »Ich bin’s, Taso, Andrea Loredan.« Der Pförtner begann zu stottern und schien noch verwirrter, ja, um nicht ganz den Verstand zu verlieren, versteckte er sich hinter seinem Schreibtisch, zitterte vor Aufregung und heulte wie ein verwundetes Tier.
Andrea ließ Matteo im lichterfüllten Eingang zurück, versprach, ihn bald zu besuchen, und trat hinaus in die Sonne und das Blau, das vom Rio Sant’Anna reflektiert wurde. Die Luft prickelte, lud sich immer mehr mit Licht und Irrsinn. Er blickte sich um, überlegte, welchen Weg er nehmen sollte. Die Fondamenta unter seinen Füßen schwankten und stampften wie ein Schiff bei schwerer See. Das war die Landkrankheit. Er stützte sich gegen eine Backsteinmauer. Alles kam aus den Häusern, strömte in die Calli nach San Marco. Er sah den Campanile von San Domenico und die schiefe Kirche. Mit der Erinnerung an den Aufstand der Arsenalotti gegen den Inquisitor kehrte der Gedanke an Sofia zurück. Er warf einen Blick auf sein Handgelenk, wo das zu wenigen kümmerlichen Fäden geschrumpfte Stoffarmband noch immer durchhielt, und beschloss, zur Bragola zu gehen, wo Sofia gewohnt hatte. Don Zuànino oder die Nachbarn würden vielleicht etwas von ihr wissen.
Auf den Fondamenta von Sant’Andrea wimmelte es von Menschen, hier war ein Durchkommen unmöglich. Andrea versuchte es über die Fondamenta della Tana und gelangte zum Campo mit dem Tor des Arsenale. Seine Schritte durch dieses Venedig, das ihm immer noch fremd war, führten ihn in die Vergangenheit zurück. Jeder Ort, ob Rio, Brücke, Calle oder Campo, lag, wie von Sofias Wesen erfüllt, vor seinen Augen. Die Steine waren ihre Haut, in dieser Ecke dort war ihr Lächeln, in der anderen ihre Tränen, die Brücke enthielt ihre schnellen Schritte, die Calle die Süße ihrer Küsse, das Wasser ihre Sinnlichkeit
Die Kirchentür der Bragola stand weit offen, das Viertel war menschenleer. Ein gelähmter Alter, den die Familie auf einem Stuhl vor seinem Haus zurückgelassen hatte, damit er ein wenig von der Freude miterlebte, erklärte ihm, dass alle nach San Marco gelaufen seien, um die Flotte zu sehen, die siegreich aus dem Türkenkrieg zurückkehrte.
In Sofias Wohnung lebte eine andere Familie, Leute aus Treviso, und nur die Großmutter mit einem weinenden kleinen Mädchen in einem Weidenkörbchen war da. Die alte Frau hatte von der Hexe gehört, die in diesem Haus gewohnt hatte, und eben weil es noch voll bösem Zauber war, hatte es niemand gewollt, und sie hatten es zum halben Preis mieten können. Andrea entschied, dass es sinnlos sei, Sofia zu verteidigen.
Er überlegte, was er jetzt tun könnte. Zu seinem Bruder Alvise wollte er nicht, denn er hatte nicht die geringste Lust, zu erzählen, er wollte überhaupt nicht sprechen. Gerne wäre er zum Grab seines Vaters nach San Giobbe in Cannaregio gegangen, doch bei der Vorstellung, die Stadt im Begeisterungstaumel durchqueren zu müssen, verging ihm die Lust. Außerdem musste auch er gehörig stinken, danach zu urteilen, wie die Leute ihm auswichen. Ein Bad und ein Bett … Die Locanda della Torre fiel ihm ein. Dort mussten noch seine Kleider und Habseligkeiten sein. Zumindest hatte Francesco ihm das bei einer ihrer wenigen Begegnungen gesagt, bevor Andrea sich auf der Galeere einschiffte.
22
Alle Ärzte der Stadt waren in das Hospital Santi Pietro e Paolo gerufen worden, und weitere waren aus den umliegenden Orten gekommen. Man hatte die Männer mit Brandwunden nachder Schwere ihrer Verletzungen aufgeteilt. Die Erfahrung lehrte, dass der Tod durch Feuer besonders heimtückisch und schmerzhaft war, denn wer dachte, er sei noch einmal davongekommen, den konnte urplötzlich aus nichtigem Grund jenes Leiden befallen, das große Ähnlichkeit mit der Gangräne hatte. Leonardo Fioravanti behauptete, es sei nicht das Feuer, was töte, sondern jene teuflische Krankheit, die durch Körperöffnungen eindringe und sich dann ausbreite. Darum bestand die erste Behandlung darin, die Wunden mit
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