Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
verwandelt. Kein Himmelfahrtsfest, kein Karnevalsdonnerstag hatte je eine so massenhafte Beteiligung erlebt. Es wimmelte von Männern und Frauen, die einander umarmten, tanzten und schrien. Die Kinder auf den Schultern ihrer Eltern hatten die beste Sicht, überall wehten die Fahnen der Serenissima, und ein paar Menschen waren im Gedrängel schon ins Wasser gefallen. Auf den Loggien des Dogenpalasts, an den beiden Balkonen und an den großen Fenstern der Sala del Maggior Consiglio bis zu den Sälen der Quarantia und des Scrutinio drängten sich die Menschen, ja, sogar auf den Dächern standen Schaulustige. Die gesamte Belegschaft der Münze war nach draußen gekommen. Und der durch den Uhrenturm drängende Menschenstrom schien all jene überschwemmen zu wollen, die sich die Piazza San Marco schon erobert hatten.
Andrea hörte Giustinian mit den Gondolieri sprechen und den Fanti und Soldaten, die die Menge zurückzuhalten versuchten, etwas zurufen. Neben ihm stand Doktor Dalessi. Bootewurden gebraucht, sofort, um die Verletzten ins Hospital Santi Pietro e Paolo zu bringen, wo man Brandwunden zu behandeln wusste. Andrea beschloss, zu Matteo zurückzukehren, seinem Nachbarn auf dem Strohlager. Aus der Decksluke kam ein warmer Pesthauch, der ihm den Atem nahm. Er stieg hinunter. Dort lag Matteo mit seinen ölgetränken Verbänden, die die Farbe von Rost angenommen hatten. Er atmete schwer. Der andere Nachbar, der ein Bein verloren hatte, war vor zwei Tagen gestorben, sie hatten ihn vor Istrien dem Meer übergeben.
»Wir sind in San Marco, gleich gehen wir vom Schiff, und sie werden dich ins Krankenhaus bringen. Ich komme mit dir«, sprach er dem Blinden Mut zu.
»Genieß das Fest. Kümmere dich nicht um die Toten.«
»Rede keinen Unsinn!«
Ein Knirschen fuhr durch den Kielraum, es war das Ankertau, das sich spannte. Man hörte die Rufe der Matrosen am Bug.
»Auf Männer, wer gehen kann, kommt an Deck!« Das war die Stimme von Dalessi an der Luke.
»Ich helfe dir, versuch aufzustehen.« Andrea beugte sich über Matteo und nahm seinen Arm.
Francesco d’Angelo, der für die Gerichtsverhandlung der Quarantia Civil an diesem Morgen die schwarze Anwaltstoga des avvocato straordinaio trug, hatte sich einen Platz auf dem Balkon der Sala dello Scrutinio erobern können. Das Gedrängel hinter ihm war so stark, dass er sich, um nicht zwischen den Körpern und der Balustrade erdrückt zu werden, in die Ecke neben dem Türrahmen gestellt hatte. Eine ideale Position, um zu beobachten, was auf der Piazza San Marco, der Piazzetta und an Bord der Angelo Gabriele geschah. Als die ersten Verletzten aus dem Kielraum gebracht wurden, erreichte der Gestank dieser Körper die vordersten Zuschauerreihen auf der Mole und ließ die Freudenrufe verstummen. Die pestilenzialischen Gerüche aus der Galeere stiegen bis zu Francesco hinauf, der von dort oben das ungewöhnliche Schauspiel beobachten konnte, wie der Teil der Menge, der sehen und verstehen konnte, entsetzt schwieg, während der andere auf der Piazza in Richtung Mercerie, begleitet vom Festgeläut der Glocken, immer noch jubelte. Als Francesco wieder auf das Deck der Angelo Gabriele spähte, meinte er eine vertraute Gestalt zu entdecken. Der Mann war zu weit entfernt, um seine Gesichtszüge deutlich zu sehen, doch nah genug, um die Statur und Bewegungen zu erkennen, und vor allem die Bereitwilligkeit zu sehen, mit der er sich um die Verletzten kümmerte. Das musste Andrea sein! Beflügelt von dieser Ahnung, konzentrierte Francesco seine ganze Aufmerksamkeit auf ihn, und als der Mann vor zum Bug auf die Enterbrücke kam, erkannte er ihn trotz der kurzen Haare und des eingefallenen, sonnenverbrannten Gesichts. Unwillkürlich rief er seinen Namen, doch nur einmal, denn in diesem Getöse würde er niemals gehört werden. Entschuldigungen murmelnd, wühlte er sich, wie gegen einen reißenden Gebirgsbach anschwimmend, durch die Menge im Großen Saal und auf der Scala dei Censori. Im Innenhof aber kam er nicht weiter, er ertrank in einem Meer aus Menschen.
21
Wie versprochen, hatte Andrea den armen Matteo zum Hospital Santi Pietro e Paolo begleitet. Der Zwerg Taso, der Pförtner des Krankenhauses, hatte ihn nicht sofort erkannt, er war zu entsetzt über die Menge der Verletzten, die hereingebracht wurden. Auch wusste er nicht, was er tun sollte, darum irrte er mit Feder, Tintenfass und Verzeichnis zwischen diesen Gespenstern umher, statt die Namen der Eingelieferten aufzuschreiben und
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