Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
Büchern und Kleidern, als hätte er das Zimmer am Abend zuvor verlassen. Wasser und Handtücher wurden gebracht, man richtete sein Bett. Als er allein war, zog er die schmutzigen Kleider aus, streifte den Behälter mit dem Timaios ab, wusch sich gründlich, zog ein sauberes Hemd an und streckte sich auf dem Bett aus. Das Laken duftete nach Enzian. Das Kissen war mit weicher gekämmter Wolle ausgestopft. Auch die Matratze. Er genoss die laue Wärme der Decke und schlief ein.
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Erst nach einer Stunde Fußweg mit einem Umweg über Rialto erreichte Francesco d’Angelo das Hospital Santi Pietro e Paolo, denn Boote gab es keine, an den Anlegestellen der Fähren standen endlose Schlangen, und von San Marco bis zu den Schiavoni und dem äußersten Ende des Castello-Viertels war wegen der Menschenmassen kein Durchkommen.
Auch im Hospital war das Durcheinander auf dem Höhepunkt, denn nicht nur Verwandte und Freunde der Eingelieferten, auch alle anderen Venezianer, die einen Sohn, einen Bruder, einen Ehemann auf der unbesiegbaren Flotte hatten, waren herbeigeströmt. Jeder wollte Nachrichten, ein tröstliches Wort. Um dieses fortwährenden Ansturms Herr zu werden und die Ruhe der Leidenden zu gewährleisten, hatten die Ärzte die Arsenalotti vor den Toren aufmarschieren lassen. So versuchten viele hereinzukommen, aber nur wenigen gelang es. Francesco, der häufig wegen Obduktionen und Gesundheitsbescheinigungen in dieses Hospital kam, versuchte den Weg über San Gioachino erst gar nicht, sondern machte einen Umweg über San Daniele und betrat das Gebäude über den Garten durch die sogenannte Totentür, durch die die Leichname herausgebracht wurden.
Der Anwalt ging in das Stockwerk der Kranken hinauf, dem Menschenstrom und dem stechenden Geruch folgend. Im großen Saal, der von Stimmen und Schmerzensschreien widerhallte, erblickte er Dottor Dalessi.
Angelo Riccio hatte sich tastend erhoben, um Wasser zu lassen und einen Arzt um etwas Öl und Opium gegen seine Schmerzen zu bitten. Als er in den Saal zurückkehrte, erkannte er d’Angelo, der mit Dalessi an seinem Bett stand. Einen Augenblick war er versucht, sich zu verstecken, doch dann überlegte er, dass er auf die Verunstaltung durch das Feuer und die Verbände, die sein Gesicht wie eine Maske verbargen, vertrauen durfte. Also beschloss er, das Wagnis einzugehen, wie er es schon sein ganzes Leben lang tat. Er stellte sich als Matteo Riato aus Padua vor, ein Überlebender durch Gottes Gnade und Eingreifen. Die Fragen des Anwalts beantwortete er, konnte ihm aber nicht sagen, wohin Andrea gegangen war. Loredan habe ihm lediglich versprochen, ihn bald zu besuchen. Riccio sah Francesco erleichtert weggehen. Dann bat er Dalessi um zwei Gran Opium. Der Arzt gab sie ihm. Und so kam auch für Riccio ein sanfter Schlummer, zusammen mit einem letzten Gedanke an Rache.
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Zuerst hörte Andrea die Schritte, dann die Stimmen, darunter auch die flehende von Graziosa: »Messer Loredan ruht, ich bitte Euch, hochverehrte Signori, kommt später wieder!« Ihr folgte eine entschlossene männliche Stimme: »Wir haben Befehle auszuführen, Signora!«
Andrea richtete sich auf, und die Benommenheit fiel von ihm ab. Er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht und sah zum Fenster. Ein goldenes Licht fiel durch die Läden. Die Glocken der Stadt läuteten ununterbrochen. Es musste später Nachmittag sein.
Die Schritte blieben vor seiner Tür stehen. Jemand klopfte. »Ser Loredan, öffnet bitte!«
Andrea legte sich den Mantel um und ging die Tür öffnen. Er blickte direkt in das bärtige, wohlbekannte Gesicht von Carlo Varotto, dem Missièr Grande in seiner Dienstkleidung.
»Ehre sei Euch, Messer Loredan«, sagte Varotto mit seiner Stentorstimme und verbeugte sich. »Verzeiht, dass wir Euch so abrupt wecken, aber man erwartet Euch im Palazzo.«
Einen Schritt hinter ihm erkannte Andrea Celso Calbo, der im Rang aufgestiegen war und die Uniform eines Capitano minore trug. Neben ihm zwei Fanti der Häupter der Zehn. Mit besorgten Mienen beobachteten Lorenzo und Graziosa die Szene vom Treppenabsatz aus.
Andrea fragte nach der Uhrzeit. Es hatte soeben Mittag geläutet, und Graziosa fügte hinzu: »Es ist Freitag, Messere.«
Er hatte einen Tag und eine Nacht lang geschlafen.
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Das rotgoldene Banner Venedigs killte am Bug der Gondel des Zehnerrats. Der geflügelte Löwe hielt kein Schwert mehr, sondern hatte eine Tatze auf das Buch gelegt, auf dem geschrieben stand: Pax Tibi Marce
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