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Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuseppe Furno
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nickten. »Nun, auch euer Leben ist gezeichnet vom Gitternetz des glühenden Eisens, welches das Schicksal ist. An jedem Kreuzungspunkt geschieht etwas, dort und nur dort, es ist nur dieses eine Ereignis, schön oder böse, wie auch immer. Und unser Leben ist ein unablässiges Fortschreiten von einem Viereck zum anderen. Wie Ameisen sind wir in diesem Gitternetz gefangen. Von wegen Zufall.« Er schwieg, und Stille senkte sich über die Kanzlei.
    Ferigo und Pietro hingen an den runden, weit geöffneten Augen ihres Lehrers.
    »Entschuldigt, Vater, aber wenn nichts zufällig ist, wie soll man dann die Willensfreiheit verstehen?«, fragte Ferigo, dessen Verwandtschaftsbeziehung zu dem Meister ihm erlaubte, ihn auf einen möglichen Widerspruch hinzuweisen.
    »Hohles Geschwätz!«, schnaubte Marin. »Willensfreiheit gibt es nicht. Die einzige Freiheit, die uns gewährt ist, ist die Freiheit eitler Hoffnungen.« Dann schloss er die Augen und verzog das Gesicht, als quälte ihn ein innerer Schmerz. Als er sie wieder öffnete, waren sie feucht. Er hätte weinen wollen, doch er zog nur ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich. Dann faltete er es sorgsam zusammen und steckte es in den Ärmel zurück. Als er wieder auf die Tafel zeigte, hatte er seine Fassung zurückgewonnen.
    » K c t f z! «, rief er aus, jeden Buchstaben mit der Federspitze berührend, »die versteckte Wiederholung derselben Buchstaben.« In rascher Folge klopfte er auf die fünfunddreißig Buchstaben bis zum nächsten kctfz . »Ich denke, genau in dieser unförmigen Kritzelei könnte ein Spalt der Chiffre stecken. Undgenau dort müssen wir unseren Keil hineintreiben und zuschlagen.« Mit einem feinen Lächeln auf den Lippen wandte er sich wieder zu seinen Schülern um. »Fragen? Nur Mut, ich höre!«
    Diesmal meldete sich Pietro Amadi. »Wo fangen wir an?«, stammelte er.
    Das Lächeln des Chiffreurs wurde breit. »Bei den Wurzeln natürlich!«, rief er aus, als sei das die selbstverständlichste Antwort der Welt. »Kannst du dir die Wurzeln der Bäume unter der Erde vorstellen?« Ferigo nickte mechanisch. »Gut, wir müssen an den Wurzeln erkennen, welche Pflanze über der Erde wächst. Mit anderen Worten, mein Söhnchen, wir müssen verstehen, aus welchen Buchstaben sich das Schlüsselwort zusammensetzt.«
    Der Junge blickte ihn verwirrt an. »Wie macht man das?«
    Zuàn Francesco Marin kniff ihn leicht in die Wange. »Wir müssen Maulwürfe werden, alle drei.« Er setzte sich die Brille ab, seine Augen waren von dunklen Ringen gezeichnet. »Ich werde schlafen gehen«, fügte er hinzu und wandte seinen Schülern den Rücken zu.
    Ferigo und Pietro sahen ihm nach, bis er hinter dem letzten Wandschirm verschwand. Sie wechselten einen Blick. »Hast du das verstanden?«, flüsterte Pietro. »Nein«, kam die ehrliche Antwort. »Gott sei Dank«, seufzte Pietro lächelnd. »Ich gehe auch schlafen. Gute Nacht.« – »Gute Nacht«, flüsterte Ferigo. Dann wandte er sich zu der Chiffre, fuhr mit den Fingern langsam über alle Buchstaben und lächelte sie an.

38
    Schläft man gut, verfliegen die Stunden, während sie beim Wachliegen quälend langsam vergehen. Darum meinte Andrea, als er die Schreie hörte, er sei eben erst eingeschlafen. Aber es tagte schon, und die aufgehende Sonne tauchte Altane, Dachfenster und Glockentürme in ihr rotes Licht.
    Erst waren es unverständliche Schreie, er führte sie auf die regelmäßigen Streitereien zwischen der Wirtsfrau Maria, die ungern ihre Geldbörse öffnete und allen Menschen misstraute, und den Lieferanten zurück. Doch als er kurz darauf mehrmals seinen Namen hörte, sprang Andrea, gegen die Benommenheit ankämpfend, aus dem Bett, schlüpfte in seine Hosen, streifte sich das erstbeste Hemd über und lief mit bloßen Füßen aus dem Zimmer. Er eilte durch den Flur, der zum Speiseraum der Osteria führte, und blieb erschrocken stehen: Dort stand Sofia Ruis, die rechte Hand gegen Maria erhoben, als wollte sie die Wirtsfrau ohrfeigen. Diese wiederum hatte das Blasrohr zum Entfachen des Feuers gezückt und versperrte Sofia den Weg, offenbar bereit, ihr das Rohr beim ersten Anzeichen eines Angriffs über den Schädel zu ziehen, obwohl ihre Rivalin sie um eine gute Spanne überragte.
    Zwischen den kämpfenden Löwinnen erinnerte Lorenzo an einen der Pfähle, an denen die vertäuten Gondeln zerren. Der arme, hin und her gestoßene Mann versuchte, die verbalen Stichflammen zu löschen, indem er sich, höflich um Vernunft

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