Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
ihm besser. Er ist eingeschlafen. Aber die Krankheit bleibt.«
Andrea hielt den Moment für gekommen, zu fragen: »Um welche Uhrzeit seid Ihr zu ihm gegangen?«
Formento schien zu schwanken. Eine leichte Bewegung, die Andrea der schaukelnden Gondel zuschreiben wollte.
»Kurz nach dem Abendessen.«
»Und seid Ihr bis zum Morgen bei ihm geblieben?«
Der Sekretär wich zurück wie eine Katze, die dem Krallenhieb ihres Gegners ausweicht.
»Ja, ich bin geblieben, um ihm Gesellschaft zu leisten«, antwortete er schließlich.
Andrea erwog die Tragweite der Lüge, die Zuàne Formento soeben ausgesprochen hatte, denn als er den Sekretär in der Nacht zuvor an der Ponte della Paglia in der Gondel gesehen hatte, die in den Rio di Palazzo einbog, war es weit nach Mitternacht gewesen. Er war versucht, ihn danach zu fragen, aber er tat es nicht.
Während die Gondel, von Zanetos kräftigen Ruderschlägen angetrieben, sich dem frischen Landwind entgegenstellte, der über die Piazza San Marco fegte, hielt Andrea seine Hände über das Kohlebecken, um sich zu wärmen. Was er wissen wollte, hatte er, teilweise wenigstens, erfahren: Zuàne Formento war ein routinierter Lügner. Jetzt wollte Andrea nur noch verstehen, ob dies eine unschuldige Neigung zur Ungenauigkeit, zur harmlosen Geheimnistuerei war, oder ob Formento wenig erbauliche, vielleicht sogar kriminelle Tatsachen verbergen wollte. Jedenfalls wusste Andrea nun mit Gewissheit, dass er dem Segretario Formento nicht trauen durfte.
36
Die Krankenstube der Pozzi war im letzten Teil des Flurs eingerichtet worden, der die oberen Zellen von der Mauer zum Rio di Palazzo trennte. Das Beste an dem Krankenzimmer war das nach Osten gelegene Fenster, das fast den ganzen Vormittag lang Sonne hereinließ. Das Schlechteste, dass durch eben jenes Fenster auch die kalten Nordwinde drangen. So wollte es jedoch eines der Gesetze der medizinischen Kunst, demzufolge Sonnenstrahlen und Kälte das beste Heilmittel gegen die fauligen Ausdünstungen und Dekompensationen des Körpers waren.
In der Krankenstube gab es vier Bettgestelle auf Holzböcken, saubere Decken und ein Kohlebecken, wo ausgezeichneter Essig, auf kleiner Flamme köchelnd, die Luft reinigte.
Während der Assassino Dottor Dalessi holen ging, hatte Visdecazzòn den alten Türken aus dem achten Pozzo gezogen, hatte ihn sich auf die Schulter geladen wie einen Sack Mehl und auf das Bett gelegt, das dem Fenster am nächsten stand. Kurz darauf war der Arzt gekommen und hatte Visdecazzòn von seiner größten Sorge befreit: Das Herz des Gefangenen Mehmet Hasan schlug kräftig und drohte nicht stillzustehen, und auch der Atem, obzwar schwach, hielt diese Seele weiter in ihrem Körper. Visdecazzòn hatte sich beruhigt, jetzt wollte er, dass der Gefangene wieder zu Bewusstsein kam, bevor Zaneto zurückkehrte, darum hatte er aus den Dogenküchen eine starke Essigessenz mit stechendem Geruch geholt, die gegen die Ohnmachten benutzt wurde, welche die Adeligen während der Versammlungen befielen. Und nach einer knappen Viertelstunde war auch der Dolmetscher Michele Membré, den man in der nahen Calle del Carro aus seinem Bett geholt hatte, in der Krankenstube eingetroffen. Als der alte Türke ihn ankommen hörte, hatte er innerlich gejubelt, denn genau das hatte er gehofft. Also hatte er nach mehrmaligem Einatmen essigsaurer Luft die Augen aufgeschlagen und, Benommenheit vortäuschend, verwundert die Menschen angeschaut, die ihn besorgt betrachteten. Obwohl er sicher war, dass von den Anwesenden niemand außer Membré seine schnelle türkisch-osmanische Sprechweise verstehen würde, beschloss Mehmet, kein Risiko einzugehen und nur den Dolmetscher hören zu lassen, was er sagte. Er wartete einen Moment und flüsterte etwas, an Membré gewandt. Dieser war gezwungen, an das Bett zu treten und sein Ohr dem Türken zu nähern.
»Ich werde Euch gut bezahlen, wenn Ihr mir helft«, sagte er ohne Umschweife, weil er den Charakter des Dragomans erkannt hatte. Als Membré mit erstaunter Miene zurückwich, fürchtete der Alte einen Augenblick lang, dass er einen Fehler begangen hatte.
»Was hat er gesagt?«, fragte der Wächter, dem die Reaktion des Dolmetschers nicht entgangen war.
Der zögerte, unsicher, welchen Weg er einschlagen sollte.
»Er möchte Wasser trinken«, sagte er schließlich, den Blick auf den Türken geheftet.
37
Wie die einundvierzig Wahlmänner beim Konklave für die Dogenwahl, die bis zu ihrer endgültigen Entscheidung
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