Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
bittend, mal an die eine, mal an die andere wandte. Doch wie Lastenträger am Hafen, die sich um die Arbeit reißen, waren die beiden, nachdem das strittige Thema erschöpft war, zu unsäglichen Beleidigungen übergegangen, und bei der soeben von Maria ausgestoßenen Verwünschung schien Sofia der Atem zu stocken, denn sie hielt abrupt inne. Nun schwieg sogar Maria, erschrocken über ihre eigene Ungeheuerlichkeit. Andrea begriff sofort, dass auf dieses Schweigen der Angriff folgen würde, denn schon riss Sofia die Augen auf, reckte die Schultern und wuchs in die Höhe wie eine Katze, die ihre Jungen verteidigt.
»Was ist hier los?!«, rief Andrea in die Stille.
Ruckartig drehte Sofia sich zu ihm um, Maria etwas langsamer, wegen ihres lahmen Beines. Lorenzo atmete auf. »Ser Loredan, Gott sei’s gedankt!«, sagte er, blieb jedoch zwischen den beiden stehen. Unnötigerweise, denn in dieser magischen Pauselöste sich der Zwist so schnell auf wie ein Wassertropfen auf glühenden Steinen. Maria entfernte sich, so dass Sofia auf Andrea zustürzen und zu seinen Füßen niederknien konnte.
»Ich flehe Euch an, helft mir!«, rief sie, bevor sie in Tränen ausbrach.
39
Der Weg von der Locanda della Torre bis zum Casón di San Zuàne in Bragola führt über zwei Brücken, zwei Plätze und mehrere Calli.
Francesco d’Angelo, angehender solecitadòr und Assistent des Anwalts Loredan, war von einem Boten im Rialto aufgespürt worden, während er gerade vor dem Büro der Kämmerer der Steuerbehörde Schlange stand, um einen der Steuerhinterziehung angeklagten Patrizier frei zu bekommen. Hals über Kopf war er zur Bragola gerannt, und als Andrea und Sofia Ruis beim Casón ankamen, trafen sie den jungen Assistenten direkt vor dem Eingang des Gefängnisses in der Calle della Morte schon in einer lebhaften Diskussion mit dem Hauptmann der Gefängniswächter, einem gewissen Bernardo Grifo. Dieser begrüßte Andrea mit einer Verbeugung, während Sofia ihn mit dem Blick durchbohrte.
»Schleimer! Wo ist mein Sohn? Wohin habt ihr ihn gebracht?« Das Schimpfwort, mit dem das Volk den Hauptmann der Gefängnisse bedachte, traf Grifo, als er sich wieder aufrichtete, und sein massiger Körper straffte sich zu einer kerzengeraden Haltung, als wollte er dem Feind seine Rüstung zeigen.
»Ich erlaube Euch nicht …«, erzürnte sich der Hauptmann.
»Wo ist Gabriele?«, schrie die Ruis ihn verzweifelt an.
»Verrückt! Du bist ja verrückt!«, erwiderte Grifo erregt und griff eher reflexhaft, denn in der Absicht, ihn zu benutzen, nach seinem Stock. Andrea und d’Angelo stellten sich zwischen diebeiden. »Seit Tagesanbruch brüllt sie herum wie vom Teufel besessen, dieses Weib!«, ließ der Hauptmann weiter seine Wut ab.
»Seid still, um Himmels willen! Macht nicht alles noch schlimmer«, zischte Andrea Sofia zu, ehe er sich an den Hauptmann wandte: »Ihr müsst sie verstehen, Capitano, Signora Ruis ist sehr mitgenommen. Sie hat schon einen Sohn verloren.«
»Ich weiß, ich weiß«, Grifo sprach nun leiser, dankbar griff er die Gelegenheit auf, sich zu erklären. »Ich habe selbst Kinder, und Gott weiß, wie gern ich dieser armen Mutter helfen würde, aber ich habe meine Befehle.«
Andrea ahnte, dass diese Befehle von hoch oben kommen mussten. »Capitano, Ihr seid ein Mann mit großer Erfahrung«, hub er in vertraulichem Ton an, »Ihr kennt das Gesetz und wisst, dass ich als Gefängnisanwalt das Recht habe, über die Dinge unterrichtet zu werden.«
Grifo wand sich und schien im Erdboden versinken zu wollen. Doch sein Gegenüber fesselte ihn mit einem eindringlichen Blick.
»Ich möchte Euch natürlich nicht in Schwierigkeiten bringen. Also bitte ich Euch nur um ein Ja oder Nein.« Andrea nahm sich Zeit, um näher an den Mann heranzutreten, bis er ihm ins Ohr flüstern konnte: »Im Namen der Gerechtigkeit der Serenissima, sagt mir, ob es die Zehn waren, die den Jungen weggebracht haben.«
Der Hauptmann schloss die Augen wie von einem plötzlichen Licht geblendet, schwankte, schien zu widerstehen, verlor dann doch das Gleichgewicht und streckte die Waffen.
»Ja«, murmelte er tonlos, und als wollte er seine Bereitschaft zur Mithilfe bekräftigen, fügte er aus freien Stücken hinzu, dass er selbst dem Missièr Grande, der mit den Fanti gekommen war, Gabriele zu holen, die Genehmigung zur Verlegung des Jungen überreicht hatte.
Andrea schwieg mit düsterer Miene, denn seine Stellung alsPflichtverteidiger gestattete ihm keine
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