Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
Ihr in dieser seelischen Verfassung durch das Tor des Palazzo geht, werde ich nichts mehr für Euch tun können.«
Als einzige Antwort entwand sie sich seinem Griff und begann mit Schulterstößen die Menge zu durchpflügen, die sich in der Galleria del Frumento lärmend um die Stände der Notare, Advokaten und Skribenten drängte, welche für die weniger wohlhabenden oder des Schreibens oder in Rechtsdingen unkundigen Bürger Schriftstücke, Eingaben, Beschwerden und Anzeigen verfassten. Dann verschwand sie durch die Porta del Frumento.
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Um diese Zeit schien die Sonne die Südfassade des Palazzo in eine riesige Torte zu verwandeln, indem sie den Marmor und die Steine der Bögen, Arkaden, Säulen und Kapitelle wie mit gleißendem Zuckerguss überzog. Der Lichtreflex war so grell, dass Andrea, aus der Galleria del Frumento kommend, stehen bleiben und die Augen mit der Hand abschirmen musste. Francesco d’Angelo, der ihm dicht gefolgt war, stieß fast mit ihm zusammen.
»Ziemliches Problem«, sagte der Solecitadòr, während er sich umblickte.
»Wir müssen sie finden!«, entgegnete Andrea knapp.
Das Problem, von dem d’Angelo sprach, war die Menschenmenge, die sich auf dem Hof drängte und ein brodelndes, alles übertönendes Stimmengewirr erzeugte. Andrea kannte dieses Völkchen sehr gut, das sich während der lauen Stunden des Tages in diesem windgeschützten Hof ausgiebig seinen Hoffnungen und Bitten hingab. Die Frauen waren vor allem Mütter und Ehefrauen von Gefangenen, sie pflegten den Vormittag hier zu verbringen, in der Erwartung, ihre Männer oder Söhne grüßenund während des täglichen Wasserschöpfens ein paar Worte mit ihnen wechseln zu können. Tatsächlich begaben sich die Gefangenen in Vierergruppen, mit Ketten um die Taille, einer Flasche auf dem Rücken und begleitet von einem Wächter, zu den beiden Brunnen im Hof und hielten sich dort so lange wie möglich auf. Dann gab ein Wort das andere in süßen oder bitteren Gesprächen, bis die Wächter mit ihren Stöcken auf die Gefangenen einstachen wie auf Ochsen und sie in die Zellen zurückbrachten, um sie durch neue Gruppen zu ersetzen. Für andere Frauen hingegen, die glücklicheren, wohlhabenderen und gewitzteren, konnte dieser Moment des Tages sogar bedeuten, dass sie, eventuell durch Bestechung eines Wächters, die Erlaubnis erhielten, ins sogenannte Stübchen vorgelassen zu werden und dort ihre Ehemänner zu treffen, um sich nach vielen einsamen Nächten ungestörten Freudenausbrüchen hinzugeben. Andrea bemerkte diese Dinge, und ihm wurde leichter ums Herz, denn in diesen Konzessionen und Schwächen zeigte sich die menschlichere, nachgiebigere Seite der venezianischen Justiz.
»Ich schaue mich hier unten um, dann gehe ich zur Sala della Bussola hinauf und hinunter durch alle Stockwerke von den Räumen der Zehn bis zu den Pozzi. Irgendwo muss sie ja stecken«, sagte Andrea.
Francesco d’Angelo sah ihn an. »Soll ich inzwischen in die Zellen der Signori di Notte gehen?«
»Nein, bleib du hier. Wenn man die Ruis nicht schon in die Frauenzellen gesperrt hat, muss sie früher oder später herauskommen. Halte sie auf. Und wenn es dir nicht gelingt, folge ihr. Pass gut auf, ich bitte dich, Francesco.« Mit diesen Worten entschwand Andrea dem Blick des Hilfsanwalts.
Sein Rundgang brachte natürlich kein Ergebnis, und er hätte ihn rasch beendet, wenn er nicht mindestens zehn Kollegen begegnet und gezwungen gewesen wäre, Höflichkeiten auszutauschen. Alle Anwälte waren in Begleitung ihrer jeweiligen Klienten und warteten darauf, zu den verschiedenen Gerichten desPalazzo zugelassen zu werden. Andrea passierte den Eingang zu den Pozzi, wich einem Mann aus, der Wasser verkaufte, dann einem anderen von der Compagnia della Carità, der den Gefangenen Öl für ihre Leuchten brachte. Auf der Scala dei Censori nahm er zwei Stufen auf einmal und trat dann auf die zu beiden Seiten hin geöffnete Loggia hinaus, um Atem zu schöpfen. Zwei terrazzieri des Palazzo wischten den Fußboden der Loggia spiegelblank und nutzten das Sonnenlicht, um im Marmorterrazzo dunkle Flecken zu erkennen. Aus dem Hof erscholl ungemindert das Stimmengewirr, während sich auf der Seite der Lagune, umrahmt von den Säulen, Bögen und Vierpassöffnungen der Loggia, Masten und Takelage eines vor Anker liegenden gigantischen Handelsschiffes majestätisch gen Himmel reckten.
»Avvocato Loredan …«
Aus seinen Gedanken gerissen, drehte Andrea sich um und erblickte,
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