Die Feuer von Troia
unglücklich ist oder einen Fehler begeht oder nicht das tut, was alle von ihr wollen, dann soll sie heiraten. Und wenn sie ein Kind bekommt, sind damit alle ihre Sorgen behoben.
Zu ihrer Mutter sagte sie: »Also auch du, Mutter?Hättest du mir diesen Rat gegeben, als du noch bei Penthesilea und ihren Frauen gelebt hast? Möchtest du mich verheiraten und mich schwanger sehen, nur damit ich nicht die Wahrheit sage und die Menschen damit erschrecke?«
Hekabe bekümmerte Kassandras Zorn. Sie tätschelte zärtlich Kassandras geballte Hände, streichelte die Finger und versuchte, ihr die Fäuste zu öffnen. »Sei nicht so ärgerlich, Kind. Ich weiß nicht, weshalb du immer so zornig bist. Ich möchte dich nur glücklich sehen, mein Liebes.«
»Ich bin so zornig, weil ich nur von Narren umgeben bin«, erwiderte Kassandra, »und dir fällt nichts Besseres ein, als mich auch zu einem machen zu wollen.«
Sie sprang auf und stürmte hinaus. Ihre Mutter war hoffnungslos! Und doch hatte es einmal eine Zeit gegeben, in der sie stark und unabhängig gewesen war. Kassandra besaß ihre Waffen, die es bewiesen. Weshalb hatte sie sich von dem eigentlichen Grund ihrer Warnung ablenken lassen - der Gefahr für die Frühjahrs’aussaat.
Ihre Mutter hatte statt dessen wieder davon gesprochen, sie zu verheiraten - als werde eine Frau durch die Ehe klug. Andromache war ganz bestimmt nicht klüger geworden, weil sie Hektor geheiratet hatte, und Kreusa durch die Ehe mit Aeneas auch nicht.
Wenn ich glauben könnte, eine Ehe würde eine so große Veränderung in mir bewirken, wäre ich nicht nur bereit zu heiraten, sondern würde mich danach drängen.
9
Kurz vor Tagesanbruch erwachte Kassandra vom Läuten der Glöckchen und den munteren Geräuschen, die aus der Stadt heraufdrangen. Sie hob den Kopf, und eine Welle der Übelkeit erfaßte sie: Ihr stiller Raum schien von Geschrei und dem Klirren von Waffen erfüllt zu sein.
0 nein , dachte sie, sank auf das Kissen zurück und zog sich die Decke über den Kopf. Sie blieb eine Weile bewegungslos liegen. Sie hatte sich geschworen, wenn ein Unglück geschehen sollte, würde sie nicht in der Nähe sein. Sie hatte ihre Warnung klar und deutlich ausgesprochen, und das reichte. Aber draußen bereiteten sich alle auf das Fest vor. Bald würde man kommen und sie rufen.
Schließlich stand sie auf, zog sich an und ging hinaus, um die Tempelschlangen zu versorgen. Sie hatte beinahe erwartet, daß sich Schlangen an einem Tag, der unter einem so schlechten Vorzeichen stand, in ihren Töpfen und Löchern verborgen hätten; aber sie schienen sich wie immer zu verhalten. Aus der Küche holte sie etwas zu essen und fütterte die alte Meliantha mit in verdünntem Wein eingeweichten Brot. Als es nichts mehr zu tun gab, blickte sie über die Mauer und sah, wie die zahllosen Frauen aus dem Stadttor strömten und zu dem fruchtbaren Land zwischen den Flüssen zogen.
Kassandra kleidete sich nicht in ihr Festtagsgewand und wand sich auch keine Girlande ins Haar. Aber sie flocht ihre dunklen Haare zu einem lockeren Zopf, damit sie ihr nicht über die Augen fielen. Dann verließ sie den Tempel. Vor der Stadt entdeckte sie eine vertraute Gestalt mit rötlichblonden Haaren. Kassandra beeilte sich, um die Frau einzuholen.
»Oenone, was machst du hier? Sät ihr am Ida kein Getreide, Schwester?«
Durch Kassandras freundliche Worte ermutigt, lächelte Oenone sie liebevoll an, sagte aber nichts. Kassandra verstand so deutlich, als habe die andere es ausgesprochen: Ich hoffe, Paris zu sehen . Kassandra konnte sie in dieser Hoffnung nicht bestärken; deshalb streckte sie die Hände nach dem rundlichen Kind aus, das auf den Schultern seiner Mutter saß.
»Wie groß er geworden ist! Ist er nicht zu schwer, um ihn den ganzen Weg auf den Schultern zu tragen?«
»Die Farbe seiner Augen hat sich geändert, und er ähnelt immer mehr seinem Vater«, sagte Oenone, ohne auf Kassandras Frage einzugehen. Und wirklich, der Kleine hatte bei seiner Geburt wie so viele Kinder graublaue Augen gehabt; inzwischen leuchteten sie hellbraun, wie die Augen von Paris und Kassandra.
Das wird ihm viel nützen , dachte Kassandra so wütend, daß sie Mühe hatte, sich zu beherrschen. Sie konnte Oenone wegen dieser aussichtslosen und lächerlichen Hoffnung nicht tadeln und befahl deshalb ärgerlich: »Geh nach Hause, Oenone, kümmere dich um die Aussaat am Ida. Bei diesem Fest wird wenig Gutes herauskommen. Die Götter zürnen
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