Die Feuer von Troia
entgegenzugehen, was das Schicksal uns bestimmt hat!
Aber war das nicht das Los aller Menschen? Und wie gelang es ihnen, das zu ertragen?
Tag um Tag verging, ohne daß Kriegsschiffe oder die Schiffe der Räuber auftauchten. Andere Schiffe legten auf dem Weg nach Norden, nach Kolchis und in das Land des Nordwindes an. Sie entrichteten Troia Tribut, und es kamen auch Schiffe aus Kolchis, mit denen Königin Imandra ihrer Tochter und Kassandra Geschenke und Grüße überbringen ließ.
Eines Morgens fand Kassandra ihre Schlange tot im Topf, und sie sah darin das schlimmste aller Vorzeichen. In den letzten Wochen hatte sie nur wenig Zeit für die Schlange gehabt, und sie machte sich Vorwürfe, weil sie nicht gemerkt hatte, daß dem Tier etwas fehlte. Sie bat um die Erlaubnis, die Schlange auf dem Tempelgelände begraben zu dürfen. Als dies geschehen war, ließ Charis sie rufen und betraute sie mit der Aufgabe, alle Schlangen im Apollontempel zu versorgen.
»Aber warum?« fragte Kassandra. »Ich bin unwürdig. Ich habe meine Schlange so schlecht behandelt, daß sie krank geworden und gestorben ist.«
»Du fragst, warum wir diese Aufgabe dir übertragen? Weil du nicht glücklich bist, Kassandra. Glaubst du, wir seien blind? Ich habe dich sehr gern, wir alle haben dich gern«, und als Kassandra eine abwehrende Geste machte, fuhr sie fort. »Nein, das stimmt. Glaubst du, wir wissen nicht, was Khryse dir angetan hat? Glaub mir, wenn wir die Möglichkeit hätten, ihn vor die Tür zu setzen, wären viele dafür. Jetzt haben wir eine Möglichkeit, dir eine Aufgabe zu übertragen, bei der du ihm nicht täglich und stündlich begegnen mußt.«
Kassandra verstand es trotzdem nicht: Weshalb konnten sie Khryse nicht aus dem Tempel jagen? Er hatte versucht, eine Jungfrau des Gottes zu schänden. Sie konnte das Rätsel nicht lösen; Charis gab ihr auch keine Erklärung und sagte nichts mehr zu diesem Thema. Offensichtlich durfte sie nicht einmal darüber sprechen, weshalb Khryse diese Macht im Tempel hatte.
Es gab eine alte Priesterin, die sehr viel über Schlangen wußte. Sie war älter als Hekabe - mindestens so viel älter, als die Königin ihre Tochter an Jahren übertraf. Kassandra wollte unbedingt vermeiden, daß die anderen Schlangen im Tempel das Schicksal ihrer Schlange teilten, und verbrachte viele Stunden bei der alten Frau. Ihre weißen Haare waren fast alle ausgefallen, und die Augen lagen tief eingesunken in den Höhlen. Sie litt an einer Alterslähmung, und ihre Hände zitterten so sehr, daß sie nicht einmal den Löffel halten konnte. Dieses Leiden hatte es notwendig gemacht, die Sorge für die Schlangen einer anderen Priesterin zu übertragen.
Kassandra wich nicht mehr von der Seite der alten Frau, trug sie, flößte ihr Essen ein, und wenn die Priesterin in der Lage war zu sprechen, erfuhr Kassandra alles über große und kleine Schlangen, darunter auch über Arten, die man nicht mehr im Tempel hielt. Manchmal hatte Kassandra das Gefühl, sie würde am liebsten lange Reisen unternehmen, um diese seltenen Wesen für den Apollontempel aufzuspüren: Schlangen, die weit im Süden in der Wüste lebten, oder eine Art, die man Python nannte, und die dicker war als ein kleines Kind. Die Python konnte ein Lamm oder sogar ein Schaf verschlingen. Kassandra wußte nicht genau, ob sie an ein solches Tier glauben sollte, aber sie hörte die Geschichten der alten Frau gerne.
Wenn die Schlangen gefüttert waren, gab es wenig für sie zu tun außer der Pflege der alten Meliantha. Kassandra träumte dann vor sich hin, dachte an ihre Begegnung mit der Göttin als Schlangenmutter in der Unterwelt und fragte sich, wie wohl die Geschichte entstanden war, daß der Sonnengott die Python erschlagen hatte. Späte Winterregen trieben vom Meer herein, und an den kahlen Zweigen sah man die kleinen Knospen, die sich bald zu Blättern entfalten würden.
Eines Tages stand Kassandra auf dem Dach des Tempels und hörte in der Ferne durchdringende Vogelschreie. »Die Kraniche fliegen wieder nach Norden«, rief jemand. In welches ferne Land hinter dem Land des Nordwindes mögen sie wohl fliegen? dachte Kassandra. Die anderen Priesterinnen dachten praktischer. »Es wird bald Zeit für das Fest der Frühjahrs’aussaat«, sagte Chryseis, und ihre Augen leuchteten sinnlich. »Ich habe es satt, bei den Frauen eingesperrt zu sein.« Kassandra erfaßte Angst; mit dem Frühjahr würden sicher die Achaier zurückkommen. Der letzte Wintermond
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