Die Feuer von Troia
Kassandra wußte, man hatte dieses Tier aus allen Eseln in Troia ausgewählt, denn es war makellos und ohne Fehler. Der Besitzer war sehr gut für diesen Esel bezahlt worden.
Priamos drückte die Pflugschar in die Erde, und wieder erhob sich Jubel, als er eine dunkelbraune, fruchtbare Furche in die helle, von der Sonne getrocknete Erde riß. Die Frauen stimmten ein neues Lied an. Als Kassandra noch ein kleines Mädchen war, hatte man ihr erzählt, die Lieder sollten den Aufschrei der Erdmutter übertönen, die auf solche Weise geschändet wurde. Bei den Amazonen hatte Kassandra eine andere Version gehört: Die Erdmutter schenkte ihren Kindern aus freiem Willen Nahrung; mit den Liedern wollte man SIE nur preisen und IHR danken. Aber trotzdem mußte Kassandra auch diesmal einen Schauder unterdrücken, als der Pflug sich in die Erde bohrte.
Die fruchtbaren Frauen der Stadt zogen ihre Obergewänder aus und entblößten die Brüste. Mit symbolischen Gesten schenkten sie ihre Milch dem wartenden Land, um die Felder zu nähren. Mehr als die Hälfte der Frauen war schwanger, angefangen von den jungen, die das erste Kind im Leib trugen und deren Brüste nicht größer als unreife Pfirsiche waren, bis hin zu Frauen in Hekabes Alter, die Jahr um Jahr ein Kind geboren hatten und ihre langen schlaffen Brüste dem Himmel und der Sonne darboten.
Kassandra stimmte in den Ruf ein, der zum Himmel emporstieg: »Erdmutter, wir bitten DICH, nähre DEINE Kinder… «
Körbe mit Saatgut wurden an die fruchtbaren Frauen verteilt. Sie liefen über das Feld und verstreuten die Körner. Priamos wurde in der allgemeinen Hast an den Rand des Feldes gedrängt; er stolperte, fiel der Länge nach auf die Erde. Die Menge hielt bei diesem schlechten Vorzeichen die Luft an. Man hob ihn auf und trug ihn behutsam zu den anderen Männern, die um das Feld standen und zusahen. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel, und ihre Strahlen brannten mit blendender, sengender Kraft.
»Vielleicht würde die Erde Frucht bringen, ganz gleich, was wir tun oder nicht tun«, sagte ein großer derber Mann, den Kassandra noch nie gesehen hatte. »Ich bin bei den Barbaren gewesen, wo man nichts von unseren Göttern weiß, und das Getreide wächst dort nicht besser oder schlechter als hier.«
»Sei still, Ajax, wir können auf deine dummen Gedanken verzichten.« Kassandra erkannte die tiefe Stimme von Aeneas. »Ob das Wachstum etwas mit den Göttern zu tun hat oder nicht, so ist es Brauch und Sitte hier. Und warum auch nicht?«
In der Ferne grollte Donner, und Wolken zogen über die Sonne. Kassandra fiel auf, daß die Insekten in den Hecken verstummten. Dann klatschten ein paar Regentropfen auf die trockenen Zweige, und bald klebten den Frauen die dünnen Gewänder am Körper. Sie jubelten: »Dank sei DIR, Erdmutter, denn DU schickst den Regen, um uns zu nähren!«
Die Lieder verstummten, als es immer heftiger regnete. Die Frauen waren mit der Aussaat fertig, und alle, auch die kleinen Mädchen und die alten, unfruchtbaren Frauen, liefen auf das Feld und halfen, die Körner mit Erde zu bedecken. Kassandra wollte zu Oenone, als es ihr schwarz vor Augen wurde. Benommen blieb sie stehen und glaubte, die Erde unter ihren Füßen habe gebebt.
Ein Schlachtruf ertönte. Kassandra drehte sich um und sah Schiffe, die wie aus dem Nichts am Strand erschienen waren, wahrend sich alle Augen auf das Pflügen und Säen gerichtet hatten. Dunkel gekleidete Männer sprangen schreiend und brüllend an Land.
Nach alter Sitte waren die Troianer unbewaffnet zum Feld gekommen. Die meisten rannten nun zur Stadtmauer, wo sie die Waffen zurückgelassen hatten. Paris erschien als einer der ersten auf der Stadtmauer und schoß Pfeil um Pfeil auf die heranstürmenden fremden Soldaten. Immer mehr Pfeile und Speere schwirrten durch die Luft, und viele Achaier stürzten getroffen zu Boden, ehe sie das Feld erreichten. Andere, die sich bereits Frauen gegriffen hatten, ließen sie wieder los und versuchten, ihre Schiffe zu erreichen, ehe ihnen der Rückweg abgeschnitten wurde.
Kassandra sah mit Entsetzen, daß Oenone die Gruppe der .Frauen verließ - offenbar suchte sie ihr Kind. Einer der Angreifer in einer Rüstung sprang herbei, packte sie und warf sie sich über die Schulter. Oenone schrie und wehrte sich, aber der Mann rannte mit ihr davon. Plötzlich stürzte er von einem Pfeil getroffen zu Boden. Oenone konnte sich befreien und lief zu den Frauen zurück, die sich um die Königin
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