Die Feuer von Troia
füllte sich und nahm wieder ab; es kamen graue Tage mit Nieselregen; dann verschwanden die Wolken vom Himmel, und die schmale Mondsichel kündigte den Frühling an. Es war Zeit für das Fest.
Man rief Kassandra in den Palast zu ihrer Mutter. Hekabe und ihre Frauen trafen Vorbereitungen für das Ritual der Aussaat. Eine Priesterin der Erdmutter überwachte die Arbeit.
Kassandra hörte sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen: »Ihr bereitet ein Fest vor, an dem die Achaier sich freuen werden? Wenn ihr jetzt ein Fest feiert, fordert ihr sie damit doch nur auf, es zu stören!«
Die Priesterin, eine alte Frau, die Kassandra kaum kannte, fragte ärgerlich: »Was hast du für einen anderen Vorschlag, Herrin Kassandra? Wir können nicht darauf verzichten, das Getreide zu säen ….«
Ich weiß, daß die Saat in die Erde muß«, entgegnete Kassandra beinahe wütend. »Aber müssen wir mit einem Fest die Aufmerksamkeit darauf lenken?«
Die Priesterin fragte stirnrunzelnd: »Willst du die Geschenke der Göttin entgegennehmen, ohne IHR Ehre zu erweisen?«
Kassandra wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte, und hätte am liebsten geweint. Wenn die Göttin so mächtig und wohltätig ist, dachte sie, wird SIE uns die Ernte schenken, ohne soviel zu fordern. Ist die Erdgöttin ein altes Marktweib, das mit uns feilscht - soviel Getreide für soviel Lieder und Tänze? Da Kassandra das nicht sagen konnte, schwieg sie. Aber ihr entging nicht, daß die Priesterin sie mißbilligend betrachtete.
»Was hat das Fest mit dir zu tun? Du hast beschlossen, eine Jungfrau im Tempel des Sonnengottes zu bleiben, und gibst der Göttin nicht, was ihr zusteht.«
»Es war nicht ganz meine freie Wahl«, murmelte Kassandra kläglich. »Der Sonnengott hat mich gerufen, und die Erdmutter hat keinen Einspruch erhoben. Hätte ER von mir verlangt, daß ich IHR diene, hatte ich gehorcht.«
Und warum hat SIE nicht IHREN Bogen gespannt und mich vor dem Sonnengott gerettet? Bin ich nur ein Tier, das vor dem Hader der Götter flieht?
Die Priesterin sah sie immer noch böse an und schien eine Antwort zu erwarten. Kassandra sagte: »Da IHRE Fülle auch mich ernährt, sehe ich keinen Grund für ein Fest, das die Aussaat nutzlos macht. Denn wenn die Achaier uns bei dem Fest überfallen, werden wir von dieser Saat wenig ernten.«
»Willst du behaupten, die Achaier ehren die Göttin nicht?«
»Ich fürchte nur ihre Gottlosigkeit«, erwiderte Kassandra. »Wenn du glaubst, daß sie die Göttin verehren, dann frag doch einen ihrer Leute oder schick einen Boten, um einen Waffenstillstand auszuhandeln, und laß sie geloben, daß sie die Rituale der Erdmutter nicht stören. « Wegen meiner Befürchtungen werde ich gequält, als sei ich gottlos. Ich sollte lernen, den Mund zu halten.
Sie verneigte sich schweigend vor der Priesterin: Sie hatte ihre Warnung ausgesprochen und nicht die Pflicht, mehr zu sagen. Ihre Mutter hatte schweigend zugesehen, und Kassandra ging zu ihr hinüber.
»Kannst du meine Angst nicht verstehen, Mutter?«
»Ich baue auf die Güte der Göttin. Sie kann gewiß die Hand erheben, wenn SIE es will, und die Achaier bestrafen«, erwiderte Hekabe tadelnd. »Du hast zu große Angst, Kassandra. «
»Du hast in all diesen Jahren der Erdmutter gedient. Hat SIE einmal die Hand gehoben, um dich zu schützen?« fragte Kassandra.
Ihre Mutter sah sie höchst mißbilligend an und erwiderte: »Es steht einer Frau nicht zu, solche Fragen zu stellen Du bist eine Priesterin und solltest es besser wissen. Die Götter zögern nicht, jene zu strafen, die gegen SIE sprechen oder an IHNEN zweifeln.«
Das hätte ich sagen sollen, dachte Kassandra. Im Tempel des Sonnengottes habe ich erlebt, wie ER straft, und wie ER die Seinen schützt. Sie seufzte und schwieg.
Ihre Mutter sagte freundlich: »Ich tadle dich nicht, Kassandra. Aber wenn du im Tempel nicht glücklich bist, solltest du zu uns zurückkehren. Ich glaube, für jemanden in deinem Alter ist es nicht unbedingt gut, so lange eine Jungfrau zu bleiben. Wenn du in das Haus des Priamos zurückkommst, wird dein Vater dir einen Gemahl suchen. Ich würde mich sehr freuen, wenn du heiratest und ein Kind in den Armen hältst. Dann gäbe es keine bösen Träume und Prophezeiungen mehr, die dich quälen.«
Trotz des liebevollen Tons ihrer Mutter überkam Kassandra so heftiger Zorn, daß sie beinahe daran erstickte. Aha, das ist bei Frauen das Heilmittel für alles! Wenn eine Frau
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