Die Feuer von Troia
Troja.«
»Trotzdem, wenn es notwendig ist, werde ich mit dir gehen und wie die anderen beten, um die Erdmutter zu besänftigen«, sagte Oenone, und Kassandra wußte, ihre Worte waren wieder einmal vergeblich.
Deshalb sagte sie: »Dann laß mich den Kleinen tragen«, und streckte die Arme nach ihm aus. Das Kind war wirklich schwer, aber da sie ihre Hilfe angeboten hatte, mußte sie zu ihrem Wort stehen. Wie schade, daß Paris nicht kommt und seinen Sohn trägt, dachte sie. Unter den Frauen aus dem Palast entdeckte Kassandra ihre Mutter und Andromache mit Hektors Sohn Astyanax, der inzwischen groß genug war, um an der Hand seiner Mutter zu gehen.
Kreusa trug ihr Kind wie üblich in einem Tuch auf ihrem Rücken; Polyxena führte die Gruppe der Töchter des Königs an. Sie trugen alle die traditionelle, mit Bändern geschmückte Festtunika der Jungfrauen, und ihre langen lockigen Haare wehten im Wind. Sie sahen Kassandra und winkten ihr zu, und weil Kassandra nicht unhöflich sein wollte, winkte sie zurück. Wenn sie das Fest nicht verschieben oder im stillen feiern wollten, um das Unheil nicht heraufzubeschwören, das Kassandra gesehen hatte, konnten sie sich ebenso gut freuen, solange es möglich war. Weiter oben stimmten Frauen das erste Saatlied an:
Bringt das Getreide, versteckt vor dem Winter!
Bringt es mit Liedern und Tänzen und Freude…
Die anderen Frauen fielen in den Gesang ein. Kassandra hörte Kreusas kräftige, wohlklingende Stimme; aber als sie ebenfalls versuchte zu singen, brachte sie keinen Ton hervor. Ihre Stimme versagte.
»Siehst du«, sagte Oenone, »die Männer stehen auf der Mauer und beobachten uns. Da ist dein Vater, mein Schatz!« rief sie und versuchte, die Aufmerksamkeit des Kindes auf den Mann in der glänzenden Rüstung zu lenken, auf der sich die blassen frühen Sonnenstrahlen wie Pfeile brachen.
Der Kleine wand sich in Kassandras Armen und wollte sehen, worauf seine Mutter deutete. Er war so schwer, daß Kassandra das Gleichgewicht verlor und beinahe gestürzt wäre.
»Ich nehme ihn besser wieder«, sagte Oenone, und Kassandra hatte nichts dagegen. Sie sah Hektors leuchtendroten Helmbusch, Priamos in seiner schimmernden Rüstung und Aeneas, der alle anderen Männer überragte.
Sie erreichten die Felder; der Boden war schon seit Tagen vorbereitet. Die Frauen bückten sich und zogen die Sandalen aus, denn man durfte die Brüste der Erdmutter bei diesem Ritual nur barfuß betreten. Hekabe in einem roten Gewand hob die Hände zur Anrufung. Dann hielt sie inne und winkte Andromache zu sich. Die jüngere Frau, ebenfalls in einem leuchtendroten Kleid, das sie aus Kolchis mitgebracht hatte, trat vor und nahm ihren Platz ein.
Kassandra begriff: Hekabe war alt. Sie hatte zwar siebzehn Kinder geboren, von denen mehr als die Hälfte das fünfte Lebensjahr erreicht hatte - und das war ein deutliches Zeichen für die Gunst der Erdmutter -, aber sie war über das gebärfähige Alter hinaus, und dieses Ritual mußte von einer fruchtbaren Frau und Mutter durchgeführt werden. In den letzten Jahren war das nicht so wichtig gewesen; in diesem Jahr stand das Überleben der Stadt auf dem Spiel, und man wollte nicht das Risiko eingehen, daß eine dem Alter nach unfruchtbare Frau die Erdmutter beim wichtigsten aller Rituale beleidigte, indem sie die Anrufung durchführte.
Andromache gab ein Zeichen, und alle Jungfrauen und Frauen, die noch kein lebendes Kind zur Welt gebracht hatten, verließen das gepflügte Land. Kassandra verabschiedete sich mit einem Nicken von Oenone und ging zu der niederen Steinmauer und den dornigen Hecken und Büschen am Feldrand, der alles andere als unfruchtbar war. Kassandra hörte das Summen kleiner Insekten und Käfer und entdeckte viele Kräuter und Pflanzen, deren Nutzen sie langsam verstand. Sie sah eine Pflanze mit schmalen Blättern, die gegen Hautausschläge von Kindern und kleinen Tieren halfen. Sie bückte sich, um ein Blatt zu pflücken, und murmelte ein Gebet an die Göttin als Dank für die Fülle selbst auf dem Boden, der IHR nicht geweiht war.
Nachdem die Frauen alle auf dem Feld standen., kamen die Männer aus der Stadt. König Priamos, der Vater seines Volkes, trug nur sein kostbares rotes Lendentuch und war sonst bis auf eine Halskette aus purpurroten Steinen nackt. Er packte den Holzpflug mit beiden Händen und hob ihn hoch in die Luft; ohrenbetäubender Jubel antwortete ihm. Er spannte eigenhändig einen weißen Esel vor den Pflug.
Weitere Kostenlose Bücher