Die Feuer von Troia
hätte sofort erkannt, was geschehen war, und sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. In letzter Zeit hatte sie Phyllida erlaubt, die Schlangen allein zu versorgen. Also bestand auch kein Grund, zum Schlangenhof zu gehen.
Überrascht stellte sie fest, daß sie sich einsam fühlte. Sie war immer allein gewesen und an diesen Zustand so gewöhnt, daß sie sich nur selten nach Gesellschaft sehnte. Dann fiel ihr ein, daß es im Tempel jetzt einen Menschen gab, mit dem sie über alles sprechen konnte, was ihr am Herzen lag.
Die meisten Amazonen schliefen auf Decken in einem der Höfe. Penthesilea und einige ihrer Frauen hatte man ganz in der Nähe von Kassandras Zimmer untergebracht. Zwei der Frauen waren bereits wach, aßen Brot und tranken von dem herben neuen Wein, der im Tempel gemacht wurde. Penthesilea schlief ihrem Rangen t-sprechend allein in einem angrenzenden Gemach. Kassandra ging auf Zehenspitzen über den Mosaikboden mit den Muscheln und Spiralen, um die schlafenden Frauen nicht zu wecken, und klopfte an die Tür. Penthesilea öffnete und ließ sie ein.
»Guten Morgen, mein liebes Kind. Oh, du siehst erschöpft aus, als hättest du die ganze Nacht nicht geschlafen!« Sie öffnete die Arme. Kassandra flüchtete sich in ihre Umarmung und begann zu weinen, ohne zu wissen warum.
»Du mußt nicht weinen«, sagte Penthesilea. »Wenn du aber weinen willst, dann hast du meiner Meinung nach Grund genug dazu. Aeneas wollte dich doch nach dem Essen zurückbringen. Hat der Kerl dich verführt, mein Kind?«
»Nein, so war es nicht«, widersprach Kassandra gereizt und sah erstaunt, daß Penthesilea lächelte.
»Nun ja, wenn es Liebe ist, warum weinst du dann?«
»Ich… weiß nicht. Ich nehme an, weil ich dumm bin, und weil ich schon immer wußte, wie dumm Frauen sind, die sich mit Männern auf solche Spiele einlassen, von Liebe reden und weinen… «
Und jetzt , dachte sie, bin ich nicht besser als eine von ihnen .
»Das ist die Macht der Liebe«, sagte Penthesilea. »Du hast sie später als die meisten von uns kennengelernt, das ist alles. Wegen einer Liebesgeschichte weint man mit dreizehn, nicht mit dreiundzwanzig. Und als du dreizehn warst und nicht wegen eines jungen hübschen Burschen geweint und gejammert hast, dachte ich, du würdest vielleicht bei Frauen Liebe suchen.«
»Nein, so war es nicht«, erwiderte Kassandra. »Ich wußte zwar, was es bedeutet, Frauen zu begehren, aber nur deshalb, weil ich sie mit den Augen von Paris gesehen habe.«
Kassandra erinnerte sich, wie stark Oenone und Helena auf sie gewirkt hatten; was auch geschah, etwas in ihr würde immer große Zuneigung für Helena empfinden. Das war allerdings etwas anderes und manchmal nicht angenehm. Aber jetzt war sie wütend, weil sie sich wegen eines Mannes, von dem sie nie hoffen durfte, daß sich sein Schicksal mit dem ihren verbinden würde, selbst zum Narren machte.
Sie begann wieder zu weinen, aber diesmal vor Zorn. Sie versuchte, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Penthesilea sprach weiter: »Sei lieber zornig als traurig, Kassandra. Wenn dieser Krieg nicht bald zu Ende geht, wird noch Zeit genug zum Trauern sein. Komm, hilf mir in die Rüstung, Augenstern. «
Bei diesem alten Kosenamen mußte sie durch die Tränen hindurch lächeln.
Kassandra griff nach dem Harnisch mit den überlappenden Schuppen aus gekochtem und danach gehärtetem Leder, der mit Bronzeplättchen verstärkt und mit goldenen Spiralen und Rosetten verziert war. Kassandra zog ihn vorsichtig über den Kopf der alten Amazone und drehte sie sanft um, damit sie ihn zuschnallen konnte.
»Versprich mir, Kassandra«, sagte Penthesilea, »wenn mir in diesem Krieg etwas zustoßen sollte, daß meine Frauen nicht versklavt oder zur Ehe gezwungen werden. Schwöre mir, daß sie frei und ungehindert gehen dürfen, wenn Troia den Krieg überlebt.«
»Ich verspreche es«, murmelte Kassandra.
»Falls ich sterbe, soll mein Bogen dir gehören. Siehst du, in diesem Köcher habe ich sogar ein paar Kentaurenpfeile. Die meisten meiner Frauen benutzen inzwischen Pfeile mit Metallspitzen, denn sie durchbohren Harnische wie meinen. Aber die Pfeile der Kentauren - kennst du ihre Zauberwirkung, Kassandra?«
»Ja, sie sind vergiftet.
»Ja, mit dem wenig bekannten Gift aus der Haut einer Kröte«, sagte Penthesilea grimmig und fuhr fort: »Sie töten auch bei der leichtesten Wunde. Nur wenige unserer Gegner sind von Kopf bis Fuß gepanzert. Man könnte sagen, die Pfeile gleichen
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