Die Feuer von Troia
Lippen auf ihrer Stirn.
»Ich möchte mich auch von dir verabschieden, Schwester. Dich erwartet großes Leid, aber ich verspreche dir, mit dir wird alles gut werden. «
»Und Troia?«
»Nun ja, es ist bereits besiegt«, erwiderte Hektor. »Sieh doch.« Er drehte sie mit sanften, unkörperlichen Händen um, und sie sah einen riesigen Trümmerberg, aus dem Flammen loderten - dort hatte einmal Troia gestanden. Aber der Lärm der Zerstörung… wie hatte sie ihn überhören können?
»Hier gibt es keine Zeit«, erklärte Hektor, »was ist und was sein wird, das ist alles eins. Ich verstehe diese Dinge nicht alle«, sagte er leicht gereizt, »denn heute abend bin ich durch den Palast meines Vaters gegangen, als man beim Mahl saß, und nun ist die Stadt schon lange zerstört. Vielleicht hätte ich auf der Erde jene danach fragen sollen, die über diese Dinge Bescheid wissen - aber ich schien nie Zeit dafür zu haben. Jetzt sehe ich Apollon und Poseidon, Sie kämpfen miteinander um die Stadt.« Er deutete auf zwei übermenschliche Gestalten, die bis zu den Wolken aufragten und scheinbar über den gestürzten Mauern miteinander kämpften. Blitze umzuckten ihre Körper. Kassandra zitterte beim Anblick des geliebten Sonnengottes mit der Krone aus strahlend goldenen Locken. Würde ER den Kopf wenden und sehen, daß sie sich in verbotenen Bereichen befand? Entschlossen drehte sie sich um und fragte Hektors schattenhafte Gestalt.
»Was ist mit Troilos? Geht es ihm gut?«
»Er war kurz bei mir, er kam wenig später als ich hier an«, erwiderte Hektor. »Aber er ist bei Mutter im Palast geblieben und versucht, ihr zu sagen, daß sie nicht trauern soll. Er wollte nicht glauben, daß sie ihn nicht hören kann. Aber vielleicht hört Hekabe auf dich, wenn du es ihr erzählst. Sie weiß, du bist eine Priesterin und in solchen Dingen bewandert.«
»Ich bezweifle, daß sie auf mich hören wird, lieber Bruder«, erwiderte Kassandra. »Sie hat klare Vorstellungen, die keinen Platz für meine lassen. Aber für das Wohl unserer Eltern und ihren Seelenfrieden…« Kassandra dachte nach. »Ich bin hierhergekommen, weil ich versuchen wollte, Achilleus Angst einzujagen, damit er uns deine Leiche gegen ein Lösegeld zurückgibt. Vielleicht kannst du das besser als ich.«
»Glaubst du, er fürchtet sich vor Geistern? Er hat so viele Menschen getötet, deren Geister ihn ständig umgeben«, sagte Hektor. »Aber ich will sehen, was ich tun kann. Geh zurück, Schwester, geh auf deine Seite der Mauer, die sich jetzt zwischen uns stellt. Sag Mutter und Vater, sie sollen die Zeit nicht mit Trauern verschwenden. Sie werden bald bei mir sein. Und vergiß nicht, auch Andromache zu trösten. Ich werde hier auf unseren Sohn warten. Sag auch ihm , er soll sich nicht fürchten, ich werde ihn abholen. Andromache würde nicht wünschen, daß er in den Zeiten, die kommen, dort lebt.«
Hektor wandte sich ab und schwebte auf das Zelt des Achilleus zu. Er drehte sich noch einmal um, und Kassandra dachte: Er wirkt bereits fern und fremd wie ein Mann, den ich nicht kenne. »Folge mir nicht, Schwester. Unsere Wege trennen sich hier. Vielleicht begegnen wir uns wieder und verstehen uns dann besser.«
»Werde ich nicht zu dir, Troilos, unserer Mutter und unserem Vater kommen?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er, »du dienst anderen Göttern. lch glaube, wenn du das Reich der Toten durchschreitest, wirst du ein anderes Ziel haben. Aber es ist mir gegeben zu wissen, daß sich unsere Wege hier für lange Zeit, wenn nicht sogar für immer trennen. Möge es dir gutgehen, Kassandra.« Er nahm sie in die Arme, und zu ihrer Überraschung fühlte sie seine kräftige Umarmung. Das war kein Geist. Er war so wirklich wie sie selbst. Dann war Hektor verschwunden, selbst sein Schatten war auf der Ebene nicht mehr zu sehen.
10
Gegen Morgen hörte es auf zu regnen, und ein heißer, trockener Wind fegte über das Land. Kassandra befand sich in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen. Wieder und wieder träumte sie, sie versuche, Hektors Geist zu folgen, der in das Zelt des Achilleus eindrang, wo der Prinz sich entsetzt aufrichtete und Hektor zähneklappernd anstarrte, der lachend und mühelos durch die Zeltleinwand nach draußen verschwand und wieder auftauchte. Oder sie stand in Agamemnons Zelt. Der König sah sie gierig an und versuchte, sie an sich zu ziehen, aber sie entschwand aus seinen Armen wie Nebel. Er brüllte vor Zorn und rannte in ohnmächtiger Wut
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