Die Feuer von Troia
gehört.«
Kassandra brachte nicht die Kraft auf, der wirren Chryseis den Unterschied zu erklären.
»Wenn die Stadt dem Feind in die Hand fällt«, sagte Chryseis, »wird man uns alle dem einen oder anderen Mann überlassen. Deshalb gebe ich mich denen, die ich mir selbst aussuche, solange ich es noch kann. Kassandra, willst du deine Jungfräulichkeit bewahren, damit sie dir einer der Sieger mit Gewalt nimmt?«
Ich kann ihr deshalb keinen Vorwurf machen. Kassandra brachte kein Wort mehr über die Lippen; sie drehte sich um und ging in ihr Zimmer.
Eine nachlässige Dienerin hatte die Läden nicht geschlossen. Durch die Fenster drangen Regen und Wind herein. Bienes Lager triefte vor Nässe. Die Kleine hatte sich von den nassen Decken auf den Steinboden vor der Wand geflüchtet, um vor dem Regen Schutz zu finden. Trotzdem war sie naß.
Kassandra schloß die Läden, rieb das Kind trocken und nahm sie zu sich ins Bett. Biene war kalt wie ein kleiner Frosch und jammerte leise, wachte aber nicht ganz auf. Kassandra drückte sie an sich und wiegte sich, bis die kleinen eiskalten Füße und Hände wieder warm wurden. Biene schlief bald wieder tief und fest wie jedes gesunde Kind.
Die Läden klapperten im Wind, aber das Geräusch des Sturms klang gedämpfter. Kassandra schloß die Augen und versuchte, sich im Geist an einen anderen Ort zu versetzen.
Nachdem sie sich von ihrem Körper befreit hatte, entfernte sich ihr Bewußtsein vom Bett, glitt durch das Fenster, und zu ihrer Überraschung spürte sie nichts von dem Unwetter. Sie empfand nur tiefe Stille. Auf der Ebene, auf der ihr Geist sich jetzt bewegte, gab es kein Wetter. Mit der Schnelligkeit eines Gedankens bewegte sie sich im klaren Mondlicht den Hügel hinunter, ließ das Stadttor hinter sich und flog über die Ebene und über die Wälle, die das Lager der Achaier schützten.
In diesem Mondlicht, das es nicht geben konnte, zeichneten sich die Schatten klar und schwarz ab; alles war still und verlassen, und sie entdeckte nur einen dösenden Wachposten.
Paris hatte recht, dachte sie. Die Troianer hätten mit ihrer ganzen Streitmacht das Lager in dieser Nacht überfallen sollen.
Dann erinnerte sie sich an den strömenden Regen, der das Lager besser beschützte als alle Wachposten der Welt. Sie sah etwas Dunkles und erkannte den Streitwagen des Achilleus; dahinter entdeckte sie undeutlich ein Bündel, das mußte der tote Hektor sein. Kassandra war dankbar, daß in dieser Zwischenwelt, in der sie sich plötzlich so mühelos bewegte, obwohl sie sich noch unter den Lebenden befand, Hektors Leiche nicht Sturm und Regen ausgesetzt war. Als sie an Hektor dachte, stand er plötzlich lächelnd vor ihr.
»Schwester«, sagte er, »du bist es. Ich hätte mir denken können, daß ich dir hier begegne.«
»Hektor…« Sie brach ab. »Wie geht es dir?«
»Warum fragst du?« Er schwieg und schien nachzudenken. »Es geht mir besser, als ich das hätte ahnen können«, erwiderte er. »Die Schmerzen sind verschwunden, und ich nehme an, ich bin tot. Ich weiß nur noch, daß ich verwundet wurde und dachte: Das muß das Ende sein. Dann bin ich aufgewacht, und Patroklos kam und half mir beim Aufstehen. Er war eine Weile bei mir. Dann sagte er, er müsse bei Achilleus bleiben, und ging wieder. Ich war heute nacht im Palast, aber Andromache hat mich nicht gesehen. Ich habe versucht, mit ihr zu sprechen und auch mit Mutter. Ich wollte ihnen sagen, daß es mir gutgeht. Aber sie schienen mich nicht zu hören.«
»Hast du die Stimme eines Toten gehört, als du noch gelebt hast?«
»Nein, natürlich nicht. Ich hatte nicht gelernt, auf die Stimmen der Toten zu hören.«
»Verstehst du, deshalb konnten auch sie dich nicht hören. Was kann ich für dich tun, Bruder? Möchtest du Opfer oder…«
»Ich kann mir nicht denken, wozu das gut sein sollte«, fiel ihr Hektor ins Wort. »Aber sag doch bitte Andromache, sie soll nicht weinen. Es ist seltsam, sie nicht trösten zu können. Sag ihr, sie soll nicht trauern, und wenn es dir möglich ist, sag ihr, daß ich bald kommen und Astyanax holen werde. Ich würde ihn gerne in ihrer Obhut lassen, aber man hat mir gesagt…«
»Wer?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Hektor. »Ich kann mich nicht daran erinnern, wer es war, vielleicht Patroklos - aber ich weiß, daß mein Sohn bald bei mir sein wird … Vater und Paris auch. Andromache nicht, sie bleibt noch lange dort. « Er kam auf sie zu, und sie spürte die zarte Berührung seiner
Weitere Kostenlose Bücher