Die Feuer von Troia
in die Stadt zu graben, oder sie klettern am Tempel der Jungfrau über die Mauern und greifen uns von dort oben aus an.«
»Glaubst du, das könnten sie?« fragte Hekabe ängstlich.
»Ich zweifle nicht daran, daß sie es versuchen werden, meine Königin. Es liegt an uns, ob wir ihre Listen durchschauen, die der gerissene Odysseus ersinnt, während wir uns mit dem unseligen Ding da draußen beschäftigen.« Deiphobos sah das hölzerne Pferd haßerfüllt an und drohte ihm mit der Faust.
Das hölzerne Pferd geisterte die ganze Nacht durch Kassandras Träume. In einem Alptraum wurde es lebendig, stieg wie ein Hengst und galoppierte donnernd über den Strand. Dann schlug es mit den Hinterhufen aus und zerschmetterte das große Stadttor, während aus dem Pferdeleib Krieger sprangen, raubend und plündernd durch die Straßen zogen. Der Hengst hob den schwarzen und plötzlich drachenähnlichen Kopf hoch über die Flammen, die Troia verzehrten. Kassandra erwachte: Der Traum war so wirklich gewesen, daß sie im Nachtgewand auf das Dach stieg und über die Ebene blickte. Im blassen Mondlicht stand das starre hölzerne Pferd so leblos wie immer vor der Stadtmauer. Es war nicht annähernd so groß wie im Traum. Ein paar schwache Fackeln brannten davor - ein Tribut an Poseidon? Kassandra erinnerte sich an ihre Vision, in der Apollon und Poseidon um die Stadt gekämpft hatten, und sie ging in den Tempel, um zu beten.
»Apollon, Sonnengott«, flehte sie inständig und rang die Hände, »kannst DU DEIN Volk nicht retten? Wenn Du es nicht kannst, wieso bist Du dann ein Gott? Was für ein Gott bist DU, wenn DU es nicht kannst und nicht tust?«
Entsetzt über ihr Gebet lief Kassandra wie gejagt aus dem Heiligtum. Sie wußte plötzlich, sie hatte eine Frage gestellt, die man einem Gott nicht stellen durfte und die niemals beantwortet wurde. Sie fürchtete, eine Gotteslästerung begangen zu haben. Dann dachte sie: Wenn ER kein Gott ist, oder wenn ER nicht gut ist, dann war es auch keine Gotteslästerung. Man sagt, Apollon liebt die Wahrheit. Und wenn das nicht stimmt, hat man mich nur Falsches gelehrt.
Wenn ER aber kein Gott ist, wer hat dann um die Stadt gekämpft? Wer hat Khryse oder Helena überschattet?
Wenn die Unsterblichen schlimmer sind als die schlimmsten Menschen, wenn sie klein, grausam und zänkisch sind, dann müssen die Menschen sie nicht verehren. Kassandra kam sich vor, als habe man ihr etwas gestohlen; sie hatte den größten Teil ihres Lebens dem hingebungsvollen Dienst am Sonnengott gewidmet.
Ich bin nicht besser als Helena, nur habe ich mich dafür entschieden, einen Gott zu lieben, der nicht besser ist als der schlimmste Mann.
Kassandra ging hinunter zur Tempelmauer und stand dort wie gelähmt vor Grauen und Entsetzen, noch ehe die Sonne zum letzten Mal über der zum Untergang verurteilten Stadt aufging.
15
Unter ihr lag die Ebene von Troia im grauen Licht der Morgendämmerung. In der Stadt regte sich noch niemand. Vor den Toren brannten ein paar wenige Fackeln der Feinde.
Es herrschte Grabesstille. Selbst das ferne Meer hinter den achaischen Wällen regte sich nicht, als habe die Flut aufgehört, sich am Strand zu brechen. Der erste rötliche Schein am Morgenhimmel erinnerte an ferne Flammen, die das letzte Licht des untergehenden Mondes verzehrten. Und plötzlich wurde ihr Traum Wirklichkeit: Das hölzerne Pferd vor den Toren schien plötzlich zu steigen und mit seinen riesigen Hufen gegen die Stadt zu treten.
Kassandra schrie auf und spürte, wie ihr die Stimme in der Kehle erstarb. Sie schrie noch einmal gegen die Stille an, bis sie schließlich ihre Stimme hörte, die ihr die Kehle zu zerreißen schien.
»Oh, hütet euch! Der Gott zürnt, und SEIN Zorn wird die Stadt treffen!«
Hinter der Todesstille schien sie schrecklichen Lärm zu hören, als sei im Ringen um die Stadt zwischen Apollon und Poseidon die Entscheidung gefallen: Poseidon warf den Sonnengott nieder! Kassandras Schreie waren nicht ungehört geblieben; spärlich bekleidete Frauen liefen aus den Häusern.
»Was ist geschehen? Was ist los?«
Kassandra nahm nur undeutlich wahr, was sie sagten. Es ist Kassandra, die Tochter des Priamos. Hört nicht auf sie. Sie ist wahnsinnig. Nein, hört auf sie. Sie ist eine Prophetin. Sie sieht…
»Was ist, Kassandra?« fragte Phyllida besänftigend. »Erzähle uns ruhig, was du gesehen hast?«
Kassandra stieß immer noch halb von Sinnen Worte hervor. Sie versuchte, sich selbst zu hören -
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