Die Feuer von Troia
sie war so verwirrt wie die Priesterinnen, die sich um sie scharten, und es kam ihr vor, als habe man ihr den Kopf mit einer Axt gespalten. Sie dachte: An ihrer Stelle würde ich mich auch für verrückt halten. Trotz der Verwirrung arbeitete ein Teil ihres Verstandes völlig normal, und sie versuchte verzweifelt, sich darauf zu konzentrieren und alles andere zurückzudrängen, was in ihr als Panik und Entsetzen tobte.
Sie hörte sich wieder schreien: »Der Gott zürnt! Apollon kann den Erderschütterer nicht besiegen! Die Mauern werden einstürzen! Poseidon vollbringt, wozu die Achaier in all den Jahren nicht in der Lage waren! Wir sind verloren! Wir sind zum Untergang verurteilt! Hört meine Worte und flieht!«
Aber was half die Warnung? Kassandra wußte, daß niemand fliehen konnte. Sie sah nur Tod und Verderben… Sie nahm wahr, daß Phyllida mit aller Kraft versuchte, ihr die Hände festzuhalten und eine andere Priesterin bat: »Gib mir deinen Gürtel. Ich muß sie fesseln, damit sie sich nicht selbst verletzt. Sie hat sich bereits das Gesicht zerkratzt und blutet.« Phyllida band den Gürtel fest um ihre Hände.
Kassandra wehrte sich verzweifelt: »Du mußt mich nicht fesseln. Ich werde niemanden verletzen.«
»Ich fürchte, du wirst dir selbst etwas antun«, sagte Phyllida. »Lykura, bring mir Wein mit Mohnsirup. Das wird Kassandra beruhigen. «
»Nein«, rief Khryse und eilte mit großen Schritten herbei. Er schob Phyllida entschlossen beiseite und löste den Gürtel um Kassandras Hände. »Sie braucht keinen Beruhigungstrank. Nichts kann sie beruhigen. Sie hatte eine Vision. Was ist es, Kassandra?« Er legte ihr die Hände auf die Stirn und sagte mit klarer, strenger Stimme, wobei er ihr eindringlich in die Augen sah: »Sprich, was hat der Gott dir aufgegeben zu sagen? Ich schwöre bei Apollon, niemand wird dir etwas antun, solange ich lebe.«
Aber du bist jetzt ebenso machtlos wie dein Sonnengott, dachte sie verzweifelt.
»Hört also«, rief sie und preßte die Hände auf ihr wild pochendes Herz. »Poseidon, der Erderschütterer, hat Apollon, den Sonnengott, bezwungen, und ER wird auch unsere Stadt zu Fall bringen. Wir werden den Zorn Poseidons stärker zu spüren bekommen als je zuvor. Keine Mauer, kein Haus, kein Tor, auch nicht der Palast wird verschont bleiben.
Warnt die Menschen. Sie sollen fliehen, und sei es in die Arme der Achaier. Löscht die Kochfeuer, sorgt dafür, daß in den Ölspeichern keine Fackeln brennen. Niemand soll in den Häusern bleiben, damit er nicht unter den fallenden Steinen begraben wird.« Khryse sagte entschlossen zu den Frauen: »Vielleicht bleibt uns noch etwas Zeit. Laßt die Schlangen frei, die noch nicht geflohen sind. Zwei Priesterinnen laufen zum Palast und berichten dem König und der Königin von diesem. schrecklichen Vorzeichen und fordern sie auf, ins Freie zu fliehen. Sie werden vielleicht nicht auf uns hören, aber wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht.«
»Es wird nichts nützen«, rief Kassandra gegen ihren Willen. »Niemand kann dem Zorn Poseidons entfliehen. Die Frauen sollen Zuflucht im Tempel der Jungfrau suchen. Vielleicht hat SIE Erbarmen mit uns.«
»Ja, geht«, sagte Khryse den Frauen. »Nehmt alle Kinder mit und bleibt unter freiem Himmel, bis das Erdbeben vorbei ist. Vielleicht könnt ihr euch dort vor unseren Feinden verbergen, wenn sie in die Stadt eindringen. Es gibt viel zu plündern in Troia. Vielleicht werden sie nicht dort hinaufkommen.« Er stützte Kassandra, die langsam wieder zu sich kam. Ein stechender Schmerz durchbohrte ihren Kopf, sie hatte das Gefühl zu ertrinken und die Welt durch Wasser hindurch zu sehen. »Ich muß gehen, Kassandra, und versuchen, die Warnung in der Stadt zu verbreiten. Möchtest du einen Beruhigungstrank? Wirst du Schutz hier im Tempel suchen oder gehst du in die Stadt hinunter? Kann ich etwas für dich tun?«
Khryses Stimme schien aus dem fernen Reich der Toten zu kommen, aber ihre Stimme klang ganz ruhig, als sie antwortete:
»Ich danke dir, mein Bruder. Ich brauche nichts. Geh und tu, was getan werden muß. Ich will Biene in Sicherheit bringen. «
Khryse ging davon, und Kassandra eilte in ihr Zimmer. Biene schlief unter ihren Decken. Kassandra stellte fest, daß die Schlange verschwunden war - klüger als die Menschen, hatte sie an einem geheimen Ort Zuflucht gesucht, den nur Schlangen kannten. Kassandra beugte sich über Biene und rüttelte sie sanft wach. Biene streckte die Arme
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