Die Feuer von Troia
aus und wollte hochgenommen werden. Kassandra zog die Kleine schnell an. Irgendwie mußte sie das Kind sicher aus Troia herausbringen, ehe die Achaier in die Stadt eindrangen.
Sie sagte: »Komm, Liebling, wir müssen schnell gehen«, und nahm die Kleine an der Hand.
Biene sah sie verwirrt an, lief aber gehorsam neben ihr über den Hof. Kassandra eilte mit Biene zum Tempel der Jungfrau hinauf. Sie stolperte, Lind starke Hände umfingen sie.
»Kassandra«, sagte Aeneas, »es ist soweit. War es deine Warnung?«
»Ich glaubte, du hättest die Stadt verlassen«, erwiderte sie und versuchte, ruhig zu klingen.
»Aber du kannst doch jetzt nicht mehr bleiben. Komm mit mir. Nicht weit von der Stadt entfernt liegt ein Schiff, das nach Kreta fährt … «
»Nein«, sagte sie, »komm mit - schnell. Die Götter haben Troia verlassen.«
Sie eilten in den Tempel der Jungfrau. Zu dieser frühen Morgenstunde befanden sich dort nur wenige Priesterinnen. Kassandra rief ihnen zu: »Schnell, löscht alle Fackeln - ja, sogar die heilige Flamme. Die Götter haben uns verlassen!«
Sie überließ Biene Aeneas, griff nach der letzten Fackel, die vor der Statue der Jungfrau brannte, und löschte sie. Die Priesterinnen eilten davon. Kassandra zerriß den Vorhang des Schreins. »Aeneas, das ist das Allerheiligste von Troia. Nimm es.« Sie griff nach der alten Statue, dem Palladium, und hüllte sie in ihren Schleier. »Nimm das Palladium mit über das Meer, wohin du auch gehen magst. Baue der Göttin einen Altar und entzünde das heilige Feuer. Berichte die Wahrheit über Troia.« Er machte eine Bewegung, als wolle er den Schleier wegziehen, aber Kassandra hinderte ihn daran.
»Nein, kein Mann darf einen Blick darauf werfen«, wehrte sie ab. »Schwöre, daß du die Statue zu einem Tempel bringst und einer Priesterin der Mutter übergibst. Schwöre es!« wiederholte sie, und Aeneas sah sie an.
»Ich schwöre es«, sagte er. »Kassandra, du hast keinen Grund mehr hierzubleiben. Komm mit mir - eine Priesterin sollte die Statue über das Meer begleiten.«
Er schloß sie in die Arme, und sie küßte ihn leidenschaftlich. Dann löste sie sich von ihm.
»Das ist unmöglich«, sagte sie. »Mein Schicksal liegt hier. Und es ist dein Schicksal, Troia unverletzt und lebend zu verlassen.« Plötzlich wußte sie mit aller Deutlichkeit, Biene, das Kind der Göttin, würde die Statue begleiten und behüten. »Geh auf der Stelle und nimm Biene mit. Alle unsere Hoffnungen und alle unsere Götter seien mit euch.«
»Du darfst nicht hierbleiben… «, begann er.
»Ich verspreche dir, ich werde Troia verlassen, noch ehe die Sonne wieder aufgeht«, sagte sie. »Mich erwartet nicht der Tod. Aber es ist mir nicht gegeben, dich zu begleiten. Die Götter haben es anders bestimmt.«
Sie drückte Biene an sich, küßte und segnete sie. Dann übergab Kassandra Aeneas die verhüllte Statue und das Kind.
»Ich schwöre bei meiner göttlichen Abstammung«, sagte er, »ich werde deinen und IHREN Willen erfüllen.«
Kassandra blickte den beiden durch einen Tränenschleier nach; dann drehte sie sich entschlossen um und eilte aus dem Tempel.
Kassandra hatte kaum den großen Hof des Sonnentempels überquert, als die Erde sich stöhnend aufbäumte und lautes Bersten und Krachen die Luft erfüllte. Der Boden unter ihren Füßen schwankte; sie stürzte und blieb regungslos liegen. Ihr Körper preßte sich an die Erde, die plötzlich unter ihr erzitterte. Kassandra empfand keine Angst, sondern nur ohnmächtige Wut.
Erdmutter, warum läßt DU DEINE Söhne mit dem spielen, was Du geschaffen hast?
Das Beben schien kein Ende zu nehmen. Plötzlich war alles still, und Kassandra sah, daß die Sonne in diesem Augenblick erst am Horizont erschien. Das Beben konnte nur sehr kurz gewesen sein. Kassandra richtete sich auf. Die Tempelmauern waren eingestürzt. Kaum ein Gebäude schien unversehrt zu sein. Das Schlafhaus der Priesterinnen war nur noch ein Trümmerhaufen. Sie hörte gedämpfte Schreie. Jemand war unter den Steinen begraben worden. Kassandra sah hilflos auf die Trümmer - von dort konnte niemand mehr gerettet werden. All ihre Kraft hätte nicht ausgereicht, um auch nur einen einzigen Steinquader zu bewegen - und bald verstummte das Geschrei.
Irgendwo im Garten begann ein Vogel zu zwitschern.
Heißt das, es ist vorbei?
Wie als Antwort begann die Erde wieder zu beben und zu schwanken. Plötzlich war alles still. Benommen wankte Kassandra zudem Platz, von dem sie
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