Die Feuerkrone: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
beginnt, vor dem Fußende meines Bettes auf und ab zu gehen. » In der Lengua Classica hat es eine archaische Bedeutung, die gelegentlich auch als ›Pfad‹ übersetzt werden kann. Wie in ›schmal ist der Pfad, welcher die Seele wieder herzustellen vermag‹ aus der Scriptura Sancta.«
» Sprich weiter.«
» Es ist dasselbe Wort, das wir heute Nacht in dem Tunnel unter den Katakomben entdeckt haben.«
Ich flüstere: » Das Tor, das zum Leben führt, ist schmal und klein, sodass nur wenige es finden.« Ich schlinge die Arme um den Oberkörper. » Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, worauf du hinauswillst«, sage ich, aber mein Herz schlägt unruhig, und meine Glieder kribbeln. An dem, was sie sagt, ist etwas dran. Etwas Wichtiges.
» Ich habe mich sehr gründlich mit diesem Wort beschäftigt, als ich noch Schreiberin war. Ich bin durch alle vier heiligen Schriften gegangen und habe herausgeschrieben, an welchen Stellen es verwendet wurde. Es kommt genau zehn Mal vor. Fünf Mal bezieht es sich auf die Tore– oder den Pfad– des Feindes. Aber die anderen fünf Male bezieht es sich auf etwas Positives. Auf etwas wie Leben, Wiederherstellung, Heilung.« Ximena hält inne und legt die Hand um einen der Bettpfosten. Wir sehen uns in die Augen, und sie sagt: » Wie sehr mag es wohl ein Zufall sein, dass diese Bedeutungen genau fünf Mal zu finden sind?«
Ich zucke die Achseln. » Es ist die heilige Zahl der Vollkommenheit. Etwas wird genau fünf Mal vorkommen, wenn Gott es so will.«
» Genau. Er muss es wollen. So etwas ergibt sich nicht einfach so.« Wieder geht sie hin und her, sie scheint in die Ferne zu blicken. » Ich hatte stets geglaubt, diese Verse seien metaphorisch zu betrachten. Ich dachte, der Pfad, der die Seele wieder herzustellen vermag, sei eine Art, das Leben zu führen. Der Weg des Glaubens vielleicht. Aber was, wenn…« Sie holt tief Luft. » Was, wenn es sich um einen Ort handelt, den es wirklich gibt? Was, wenn das beides echte Orte sind?«
Der Feuerstein vibriert zustimmend und schickt kleine Schauer über meine Wirbelsäule. » Wenn es beides echte Orte wären«, raune ich. » Die Tore des Feindes und das Tor, das zum Leben führt.«
» Ich weiß es nicht, mein Himmel. Aber ich werde das weiter untersuchen.«
» Vater Nicandro könnte uns vielleicht helfen. Und Vater Alentín, aus Cosmés Gesandtschaft. Beide beherrschen die Lengua Classica fließend, und ich würde ihnen mein Leben anvertrauen.«
Sie nickt. » Ich werde mit ihnen darüber sprechen. Ich bin ohnehin an dem Punkt angekommen, da ich Zugang zu den verschlossenen Bereichen des Klosterarchivs benötige.«
» Ximena«, flüstere ich. » Was, wenn es tatsächlich einen solchen Ort gibt? Was, wenn ich dort immer noch hingehen muss?«
Noch vor einem Jahr hätte sie mir mit irgendwelchen unverfänglichen Floskeln geantwortet– oder mir Gebäck gebracht– und mich zu beruhigen versucht. Aber jetzt sieht sie mich einfach nur an, die schwarzen kleinen Augen voller Entschlossenheit, vielleicht sogar Aufregung. Ich erschauere.
Glas zerbricht. Etwas stürzt zu Boden.
Ximena eilt ins Atrium. Ich folge ihr, so schnell ich kann.
Mara hat sich neben dem Badebecken zusammengekrümmt und hält sich den Bauch. Verschiedene Utensilien von der Frisierkommode liegen auf dem Boden verstreut. Die feuchte Luft ist zu schwer und süß, erfüllt von meinem Freesienparfüm.
» Was ist denn los?«, frage ich. » Was ist passiert?«
Mara keucht: » Als ich… deine Robe ausschütteln wollte… meine…«
» Ihre Narbe«, sagt Ximena. » Sie ist wieder aufgebrochen.«
Ihre Narbe. Von der Wunde, die sie bekam, als der Animagus sie verbrannt hat. Mara stellte sich damals den Hexenmeistern Inviernes in den Weg, um mir Zeit zu geben, die Magie meines Feuersteins zu aktivieren. Sie überlebte nur knapp. Über ihre Verletzungen habe ich bis heute kaum nachgedacht.
Ich schreie nach den Wachen, damit sie Doktor Enzo holen.
Mara rutscht zu Boden, die Beine ausgestreckt. Ximena schnürt ihr Mieder auf und enthüllt ein weißes Hemd voller hellroter Blutflecken. Vorsichtig zieht sie Mara das Hemd an der Taille hoch.
Ich kann den leisen Aufschrei nicht unterdrücken, der aus meiner Kehle steigt. Eine gewundene Narbe, fast vier Finger breit, zieht sich über ihren Bauch, durchzogen von Hautwülsten und Falten, wo eigentlich ihr Nabel sein sollte. Blut quillt aus einer Linie aufgeplatzter Haut.
» Dieses Mal ist es tief«, sagt Ximena und tupft das
Weitere Kostenlose Bücher