Die Filmerzaehlerin
besser gewesen als der, den sie gesehen hatten.
Durch meine Popularität ermutigt, vernachlässigte ich sogar die Schularbeiten, ließ das Comic-Lesen bleiben und konzentrierte mich ganz auf die Zeitschrift Ecran (ich lernte, dass »écran« Kinoleinwand heißt). Ich verschlang nicht nur jede neue Nummer, die in der Bibliothek ankam, sondern las mich auch durch einen Stapel alter Ausgaben, die mir die Bibliothekarin aus dem Magazin holte. Vor allem zwei Rubriken interessierten mich: »Neu auf der Leinwand« und »Klatsch und Tratsch aus Hollywood«. Ich wollte alles, alles über die Filme und die Schauspielerinnen wissen, die für gewöhnlich das Titelblatt zierten.
Weil ich mich nämlich wie eine von ihnen fühlte.
So sehr, dass ich sogar auf die Idee kam, mir einen Künstlernamen zu suchen. Ich war eine Künstlerin, also hatte ich einen verdient.
Einen, der zu dem passte, was ich tat, versteht sich.
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Durch die Ecran hatte ich herausgefunden, dass die meisten berühmten Schauspieler und Schauspielerinnen fiktive Namen trugen, weil ihre eigentlichen, richtigen, ähnlich unmöglich waren wie meiner. Oder noch unmöglicher. Das Paradebeispiel war Pola Negri, die große Stummfilmdiva. Ihr Name hatte mir immer sehr gefallen, ich fand, er war wie gemacht für eine Schauspielerin. Aber eines unschönen Tages stellte ich zu meinem Entsetzen fest, dass es sich um ein Pseudonym handelte und sie eigentlich Barbara Apolonia Chavulez hieß. Das konnte nicht wahr sein! Ich war fassungslos. Mit dem Namen hätte die Ärmste vor der Kamera nicht mal die Wimpern bewegen dürfen.
Die andere Ernüchterung erlebte ich damit, dass Anthony Quinn, einer meiner Lieblingsschauspieler, im richtigen Leben Antonio Quinoa hieß.
So schnell konnte er hin sein, der Glamour!
Später sagte mir jemand, dass Pseudonyme von Künstlern aller Sparten benutzt werden. Dass nicht nur Dichter wie Pablo Neruda (eigentlich Neftalí Reyes) und Gabriela Mistral (eigentlich Lucila Godoy) welche gebrauchten, sondern auch Sänger. Vor allem die der sogenannten »neuen Welle«, die seit kurzem andauernd auf allen Radiokanälen des Landes gespielt wurden.
Drei Beispiele pickten sie für mich heraus:
Ein Typ, der Patricio Núñez hieß, hatte sich auf den Namen Pat Henry getauft: Pat Henry und seine Blauen Teufel. Ein anderer, ein gewisser Javier Astudillo Zapata, hieß seit neuestem Danny Chilean. Und eine Oberschülerin namens Gladis Lucavecchi wurde zum großen Star, sang und posierte für Fotoromane unter dem Künstlernamen Sussy Veccky.
Da wollte ich nicht zurückstehen und fing an, nach einem Künstlernamen für mich zu suchen. Doch auch nachdem ich lange nachgedacht, Namen erfunden und neu zusammengesetzt hatte (einige entnahm ich der Ecran , andere dem Wandkalender, in dem die Heiligennamen standen, und manche sogar unserer alten Familienbibel, dem einzigen Erbstück meines Großvaters väterlicherseits), war ich mit keinem zufrieden. Bis ich eines Tages unsere gebildete Nachbarin in der Häuserzeile zu meinem Vater sagen hörte:
»Wenn sie Filme erzählt, ist Ihre Tochter wie eine Fee. Und ihr Zauberstab ist das Wort. Damit betört sie uns alle.«
Da kam ich drauf. »Mir ging eine Lampe im Oberstübchen an«, hätte mein ältester Bruder gesagt.
Ich würde mich Fee Delcine nennen.
Fee Delcine.
Ich sagte es mir ein paarmal vor und fand, es klang gut; es hinterließ sogar eine Art französischen Nachgeschmack auf der Zunge.
Und das beste daran: Es war kein M drin.
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So wurde aus unserem Garniturzimmer also quasi über Nacht und fast unbemerkt von uns ein kleiner Erzählkinosaal.
Wir teilten den Raum wie das Kino der Siedlung in zwei Hälften. Nach hinten schafften wir neben dem Sessel meines Vaters und der Bank meiner Brüder all den Krempel, auf den man sich setzen konnte, und der Teil war dann das Parkett. Der erste Rang war jetzt vorne, wo sich alle, vor allem die Kinder, auf den Boden hockten. Das Fenster, die ehemalige Loge, wurde abgeschafft.
Sie wurde geschlossen.
Mit einem Querbalken verrammelt.
Und nicht bloß, damit niemand mir zusah und zuhörte, ohne seine Spende abzuliefern, sondern weil ein paar von den Jungs aus der anderen Häuserzeile (mit denen meine Brüder sich von jeher Steinwurfschlachten lieferten) dort aufgetaucht waren, wenn ich gerade mitten im Erzählen war, und dann auch Zeug durchs Fenster geflogen war: zerkaute Kaugummis, Rotzklumpen, Wasserbomben, getrocknete Kackewürste.
Einmal hatten sie eine lebende
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